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ARD-Musikwettbewerb Ein Fenster zu... Kompass

ARD-Musikwettbewerb

Von grundsolide bis Weltklasse

Finale Gesang beim 70. ARD-Musikwettbewerb

Zunächst einmal gebührt allen fünf Finalisten allerhöchster Respekt für ihre Leistungen im Finale. Drei große und schwierige Arien unterschiedlichen Charakters hintereinander vorzutragen, ist Hochleistungssport, eine körperliche und geistige Anstrengung, die nur der ermessen kann, dem es selbst einmal gelungen ist, Perfektion zu schaffen und wäre es auch nur für drei Minuten gewesen. Vor allem das schnelle Umschalten von heiter auf todtraurig oder heroisch erfordert die souveräne Beherrschung aller künstlerischen Mittel.

Julia Grüter (Deutschland) verfügt über das, was man gemeinhin eine „Röhre“ nennt. Eine so voluminöse Stimme zu „bändigen“, kostet definitiv mehr Arbeit, als die eines süßen Soprano leggiero feinzuschleifen. Wer in der Höhe Granaten abfeuern kann, wird diese applausheischende Fähigkeit gern nutzen, um das weniger kundige Publikum zu beeindrucken. Treibt man dies zu oft, besteht die Gefahr, dass die Töne des Kopfregisters ab fis2 auch nur noch im Forte ansprechen. Diese Unart störte besonders im für Jenny Lind von Mendelssohn konzipierten „Höre Israel“ aus dem Elias. Hierzu bitte einmal bei Manuel Garcia (Lehrer von Frau Lind) im „Traité du Chant“ nachschauen. Wie man „Piangeró“ aus Händels Caesar raffiniertest gestalten kann, kann man sich durch Ansehen des Semifinal-Videos von Frau Taratorkina abschauen. Zudem sorgte der Höhenprunk für ein paar unlogische Atemstellen in „Come scoglio“ aus Così. Vielleicht ist die Stimme aber auch bereits über diese Fummelarbeit hinaus und sehnt sich nach Jugendlich-Dramatischem wie Agathe, Elisabetta (Don Carlo), Elsa (Lohengrin) und Eva (Meistersinger). Hierfür sollte dann aber noch ein wenig an der Diktion gearbeitet werden.

Iida Antola (Finnland) zeigte sich dagegen wesentlich souveräner und bestach mit großem lyrisch-warmem Timbre. Die Mimi-Arie gelang höchst überzeugend und dies sowohl vom stimmlichen als auch vom darstellerischen Ausdruck. Das Accompagnato vor der Arie der Elvira aus Don Giovanni litt jedoch an einer zu sehr auf Klang setzenden Artikulation. Die Koloraturen der Arie kamen zwar rund, verführten meinen linken Arm jedoch dazu, die imaginäre Kurbel einer Drehorgel zu betätigen. Das ginge sicherlich auch mit ein wenig besserem Timing und zielgerichteterer Phrasierung. Die Juwelen-Arie aus Faust von Gounod überzeugte stimmlich und darstellerisch. Allerdings hätte mir ein idiomatischeres Französisch noch besser gefallen. Insgesamt aber eine sehr gute Leistung einer Sängerin mit Potential, die sicherlich ihren Weg machen wird.

Valerie Eckhoff (Deutschland), die jüngste Teilnehmerin des Finales, glänzte mit einer ungemein witzigen, charmanten, exzessiv ausgezierten Arie der „Ragazza pazza“ Rosina aus Rossinis Barbiere. Das war locker in der Bartoli-Klasse, vielleicht durch das variable Vibrato und die in jedem Wort verständliche Diktion noch eine Stufe darüber. Die Erbarme-Arie aus der Matthäus-Passion litt bereits im Eingangsritornell unter der unsinnigen Behandlung der Vorhalte durch die Violine. Hier hätten zusätzliche Ornamente dem Da Capo durchaus zu Gesicht gestanden. Das sollte mal mit einem Barock-Spezialisten gearbeitet werden. Für die Hosenrolle des Sesto aus dem Titus von Mozart fehlt noch ein wenig Sonorität in der Mittelstimm-Brustregister-Mischung. Dies ist aber von einer 25-Jährigen auch nicht anders zu erwarten. Gratulation nebenbei für das herrlich geblasene Klarinettensolo! Insgesamt eine exzellente Leistung in der Kombination aus deutlicher Artikulation, scheinbarer Mühelosigkeit, großer Musikalität und intelligenter Gestaltung.

Zwei Finalisten haben das Prädikat Weltklasse verdient

Jeongmeen Ahn (Südkorea) begann mit einer Figaro-Kavatine aus Rossinis Barbiere, die in ihrer Verve, Leichtigkeit, ihrem Charme und ihrer überragenden Artikulation jedes einzelnen Konsonanten in perfektem Legato an die Granden der Schelllackzeit (de Luca, Stracciari, Battistini) erinnerte. Besser geht es nicht! Danach auf den Abschied von der Welt des Billy Budd von Benjamin Britten umzuschalten und den Schluss mit rein stimmlichen Mitteln so zu gestalten, dass dem Publikum die Tränen kamen, zeugt von einer unglaublich starken Suggestionskraft. Schließlich noch den Monolog des Ford aus Verdis Falstaff weitschallend ohne jegliches Forcieren mit perfekt eingebundenen Hochtönen in einem idiomatischen Italienisch draufzusetzen, das ist Weltklasse! Wahrscheinlich haben wir heute den legitimen Nachfolger des großen Renato Bruson gehört!

Anastasiya Taratorkina (Deutschland/Russland) konnte sogar diese Leistung noch übertreffen. Hier könnten wir eine Nachfolgerin der großen Antonina Neschdanova gehört haben, deren Aufnahmen gern als Referenz für den Belcanto der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herangezogen werden. Das Rüstzeug in Sachen Belcanto-Technik und Belcanto-Stil verdankt Frau Taratorkina dem Studium bei Frau Hendrikje Wangemann an der Dresdner Hochschule für Musik. Bei ihrer Norina-Arie aus Don Pasquale von Donizetti ging strahlend die Sonne auf. Perfekte Diktion, in jedem dynamischen Grad weich eingeschwungene Spitzentöne, Humor und ein sparsames Agieren exakt auf die Pointe der Rolle machten ihre Interpretation zum Erlebnis. Auch hier spontanes Umschalten auf eine suizidale Pamina, die so innig, farbreich und in perfektem Deutsch gelang, dass nach den letzten Tönen vor dem aufbrandenden Applaus erst einmal Totenstille herrschte. „No word from Tom“ aus Strawinskys The Rake‘s Progress offenbarte weitere interessante Stimmfarben und eine erstaunlich sonore Tiefe. Anastasiya Taratorkina ist eine Virtuosa und ein Name, den man sich merken sollte, denn sie wird demnächst die großen Häuser als Gilda, Norina und hoffentlich auch Zerbinetta erobern.

Mit der Bewertung der Jury kann ich mich nur bedingt anfreunden. Zwar erhielt Anastasiya Taratorkina zurecht den Ersten und auch den Publikumspreis. Für Valerie Eickhoff und Jeongmeen Ahn hätte mich ein geteilter zweiter Preis gefreut. Leider wurde es nur jeweils ein Dritter, den sie sich auch noch – wer weiß warum – mit Julia Grüter teilen müssen. Iida Antola ging leider leer aus.

Thomas Baack (12.09.2021)

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