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Besprechung SACD zum Thema
Orgelmusik

OehmsClassics OC 604

2 SACD • 1h 57min • 2004

21.11.2005

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 10
Klangqualität:
Klangqualität: 9
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 8

„Indessen wollest du diese meine Art, als die ich mit der aus dem steten Umgang und Gemeinschaft mit denen vormehmsten Organisten in Teutschland, Welschland und Franckreich erlangten Erfahrenheit vermischet habe und welche noch nicht eben so bekannt und gebräuchlich ist, versuchen und nach Belieben für genehm halten.“ Dies schreibt Georg Muffat, der wohl größte Eklektiker der deutschen Musikgeschichte vor Bach im Vorwort seines 1690 bei Johann Baptist Mayr in Salzburg endgültig erschienen Apparatus musico-organisticus, der wohl zu den schönsten Musikdrucken überhaupt zählt. Er blickt bewusst auf seine geradezu weltläufige musikalische Entwicklung durch alle musikalischen Traditionssphären seiner Zeit zurück. 1653 als Sohn eines Engländers und einer Französin in Hochsavoyen geboren, lernt er im Elsass und in Paris, gelangt in kriegerischen Zeiten über das Elsass, Baiern, Wien und Prag 1678 nach Salzburg, wo er in bischöfliche Dienste tritt, die ihm ein Studium in Italien ermöglichen. Seit 1690 findet man ihn in ähnlicher Funktion in Passau, wo er 1704 stirbt.

Joseph Kelemen legt nun eine Hybrid-SACD mit den zwölf Toccaten und den drei Variationswerken des Apparatus 1690 vor, die sich mit den Mitteln unserer Tage jenen weltbürgerlichen Vorgaben Georg Muffats stellt. Kelemens Idee, zwei repräsentative, historische Instrumente aus dem französisch-elsässischen und dem italianisierten, habsburgisch-baierischen Kulturraum für die Wiedergabe einander gegenüberzustellen, ist nicht neu, denn schon zur Langspielplattenzeit wurden solche Versuche unternommen. Neu sind – neben der engagiert eigenständigen Interpretation Kelemens – die Möglichkeiten der Aufnahmetechnik und die bei beiden herangezogenen Instrumenten inzwischen erfolgte, jeweils beispielhafte Restaurierung. Kelemen entschied sich für die Orgel Andreas und Johann Andreas Silbermanns von 1730/32 in der ehemaligen Klosterkirche Ebersmünster im Elsass (Restaurierung 1998 Gaston Kern, Hattmatt) und die Festorgel Johann Freundts von 1642 in der Stiftskirche Klosterneuburg bei Wien (Restaurierung 1990 Orgelbau Kuhn, Männedorf).

Muffats Satz ist nun allem Argumentieren zum Trotz süddeutsch-baierischer Natur, steht bewusst in der Kerll-Tradition, an die vermutlich auch die Nova Cyclopeias Harmonica des Apparatus unmittelbar anschließt. Zudem dürfte die Klosterneuburgerin Muffat klanglich etwas betagt erschienen sein, während das Klangkonzept der elsässischen Silbermannfamilie beim Tode Georg Muffats 1704 noch nicht einmal annähernd entwickelt war, da Andreas sich nach Ausweis des Sohnes um den Tod Muffats herum auf der "Reyße nach Paris" zu Monsieur Thierry befand, von der er erst am 3. Mai 1706 nach Straßburg zurückkehrte. Ob beide Instrumente sich für Muffat eignen, mag man also in Zweifel ziehen.

Kelemen jedoch – detailfreudig, ja detailversessen, Organist aus Leidenschaft selbst an schwierigsten Instrumenten – lässt solche Vorhaltungen als Spieler gegenstandslos werden. Er bedient sich immer stil- und geschmackssicher im Spannungsfeld der Registrierungslehren des französischen Barock und der lokalen Salzburger Umgebung Muffats, die neben dem Apparatus auch eine der konzisesten Orgelspiellehren des 18. Jahrhunderts hervorbrachte, Johann Baptist Sambers zweibändige Manuductio ad Organum 1704/1707, an deren Zustandekommen Muffat sicher wesentlichen Anteil hatte, da Samber in ihr Muffat dezidiert als seinen Lehrer bezeichnet.

Ich scheue mich zwar, Sambers Sichten auf Klosterneuburg oder Ebersmünster zu übertragen –mit Fürstenfeld bei München und der Michaelerkirche in Wien hätte ich da wesentlich weniger Probleme –, erkenne aber im souveränen Umgang mit den Grundvoraussetzungen jener Registrierungsanweisungen durch Kelemen den ebenso kundigen wie liebevollen Interpreten großartiger Musik, die er nicht zuletzt in der Surround-Version musikhistorisch ohrenfällig ohne jeden Akademismus entfaltet. Ob man unter diesen Prämissen allerdings im dritten Vivace-Takt der Toccata 8va Muffats eigentümlichem Septakkord folgen soll, war schon hitzig diskutiertes Thema in so manchem Muffat-Kurs… Kelemen entscheidet sich „in dubio pro reo“, denn in keiner der historischen Auflagen von Muffats Apparatus, die ausnahmslos von denselben Platten gedruckt wurden, findet sich diese auffällige Stelle korrigiert.

Kelemens Spiel erweist sich – wie gewohnt – untadelig, spitzfindig präzise, nie langweilig oder formalistisch an den „Quellen“ klebend. Kelemen lebt mit den Werken im Spiel und überträgt seine Freude auf den Hörer. Im Klangereignis fehlt mir indes ein wenig die Freude der Aufnahmetechnik am dramatisch unterschiedlichen Klang beider Räume und Instrumente. Man kann sich (als jeweils Ortkundiger...) des Gefühls nicht erwehren, dass hier des Schönklanges wegen eingerundet wurde. Weniger wäre daher mehr gewesen, wogegen die umgesetzte Idee der Raum-Aus- und Einblende wirklich schöne Wirksamkeit entfaltet.

Dagegen kenne ich den im Textheft erwähnten „Eigenrausch“ vielleicht bei Besuchern jenes bayerischen Nationalfestes im Frühherbst, aus Räumen aber nur ein Grundgeräusch oder Raumrauschen. Weiterhin bin ich mir nicht ganz so sicher, ob wir den Stuttgarter Steigleder-Schüler Froberger als (lebenslang??) italienisch orientiert ansehen sollten, und ob nicht der ezbischöfliche Dienstherr Georg Muffats nicht wohl doch Max Gandolf von Kuenburg hieß, der Baumeister der Ebersmünsterer Kirche nicht vielmehr Angehöriger der Vorarlberger Bauschule war, als dass die Kirche als Abkömmling „des Österreichischen Barocks“ gelten könnte. Dieses – als solches vermittelte – Zitat aus der Ebersmünsterer Orgelfestschrift ist ähnlich irreführend wie der aus derselben Quelle bezogene Hinweis auf die Integration einer Viola da Gamba in das Orgelkonzept Johann Andreas Silbermanns oder gar seines Vaters Andreas, wogegen das erhaltene Dispositionsprotokoll zum Gespräch zwischen Johann Andreas und Gottfried Silbermann zu dessen Zittauer Projekt beredt Stellung bezieht. Weiterhin stellten die Silbermänner aus Strassburg das Pedal frei hinter das Orgelcorpus und nicht hinter "eine Zwischenwand". Darüber sehe man hinweg, zumal das Textheft ansonsten den Finger auf sehr wesentliche Topoi legt.

"Die kriegerische Waffen und ihre Ursachen seyn ferne von mir; Die Noten, die Seiten, die liebliche Music-Thonen geben mir meine Verrichtungen, und da ich die Französische Art der Teutschen und Welschen einmenge, keinen Krieg anstiffte, sondern vielleicht derer Völker erwünschter Zusammenstimmung, dem lieben Frieden etwann vorspiele." (Muffat, Vorwort zum Florilegium primum, Augsburg 1695).

Empfehlung an alle Parteigänger des historischen Blicks auf Orgel und Orgelmusik, in der interessanten Surround-Version zumal!

Thomas Melidor [21.11.2005]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Georg Muffat
1Apparatus musico-organisticus (1690)

Interpreten der Einspielung

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