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Besprechung CD/SACD stereo/surround zum Thema
Junge Pianisten

Chopin

Yevgeny Sudbin

BIS 1838

1 CD/SACD stereo/surround • 70min • 2009, 2010, 2011

03.11.2011

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 10
Klangqualität:
Klangqualität: 10
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 10

Klassik Heute
Empfehlung

Die internationale Resonanz auf Yevgeny Sudbins Einspielungen für bare Münze genommen, darf der schwedische BIS-Produzent seinen russischen Vorzeigepianisten bereits als künstlerisch und klavierintellektuell feste Größe buchen. Günstiger und vor allem subjektiv zuverlässiger ist es freilich, sich auf eigene Wahrnehmungen bei der Beurteilung zu stützen, denn die in den CD-Begleitheften abgedruckten Rezensionsausschnitte zeichnen sich zumeist durch austauschbare, nicht wirklich jeweils am tönenden Objekt gewonnene Ansichten aus, ganz gleich, ob sie provinziellen oder auch führenden Medien entnommen werden. Ich, aus meiner Perspektive, bestehe erneut darauf, Sudbins musikalische und nicht nur nebenbei auch seine philologisch-literarischen Leistungen als über die Maßen tauglich, in mancher Hinsicht sogar als vorbildlich bezeichnen. Selten nämlich fügen sich die Qualitäten eines technisch bravourösen Pianisten so harmonisch mit dessen analytischen Eigenschaften, selten hat ein – noch – junger Interpret so viel zu sagen auf den verschiedenen Ebenen der Kommunikation mit seinem Publikum zu Hause vor den Lautsprechern oder unter den Kopfhörern.

Selbst wenn für meine Werk- und Darbietungsvorstellungen Sudbins Aufnahme des zweiten Klavierkonzerts von Medtner und des vierten Rachmaninoff-Konzerts (BIS SACD 1728) geringfügig – weil klanglich etwas pauschal angelegt – enttäuschend ausfielen, seine Haydn- und Scriabin-Einspielungen (BIS SACD 1788, bzw. BIS SACD 1568) rechne ich zu den einprägsamsten, eigenständigsten Leistungen der letzten Jahre – und seine furiose, dabei von kontrollierter Willensbildung jederzeit übersichtlich, also fassbar gehaltene Deutung der b-Moll-Sonate von Rachmaninoff wage ich noch eine imaginäre Stufe hööher zu platzieren.

Nun also – und es war zu erwarten – eine Chopin-Programmfolge mit „ausführlichen" Werken wie der Fantasie in f-Moll und Balladen Nr. 2 und 4, gleichsam akupunktiert mit kleineren Literaturstichen im Bereich der Mazurkas und der Nocturnes. Sudbin eröffnet mit der für Chopins Verhältnisse groß angelegten Fantasie op. 49, zutreffend düster – wie ich meine – nach dem Muster sanft rhythmisierter Trauerarbeit, dabei keine Sekunde lang weder hartherzig noch jammernd artikulierend. Es handelt sich hier um eine Innerlichkeit gewissermaßen erhobenen Hauptes, dem Duktus nach der jetzt bereits alten Harasiewicz-Einspielung ähnelnd, klanglich aber um Nuancen fülliger, noch runder in der Handhabe der Unisono- und der wie mildernd eingeworfenen Akkordgestalten. Selten auch lässt sich der Werkverlauf insgesamt, der Progress und das Abschwellen in den benachbarten Abschnitten so einleuchtend verfolgen wie in dieser Interpretation. Sudbin gelingt tatsächlich mit der klärenden Ausarbeitung des Einzelnen der summierende und der vorausahnende Blick auf das dramaturgische Ganze. Unter diesen glücklichen Umständen ist es auch nicht verwunderlich, dass er sich in der heiklen Sequenz auseinander strebender Oktaven zurückhält, während hier manche seiner lebenden und verstorbenen Kollegen sich zu Lisztscher Emphase leiten lassen und – wie etwa Cziffra – verführen ließen.

Was Sudbin mit der Fantasie gelingt, zeichnet ihn auch im ernsten Umgang mit den genannten Kleinformaten aus. Er lässt sich selbst in den dramatischen Strecken der Nocturnes (op. 48,1!) nicht zu bulligen, klavieristischen Selbstdarstellungsaffekten hinreißen. Alles musikalisch Gegenwärtige entwickelt sich organisch aus dem jeweils Vorhergehenden und eröffnet daher schon eine Perspektive auf das Kommende. Die melodieführende Oberstimme bewegt sich frei, aber nicht ohne deklamatorische Sorgfalt über den stets lebendig gehaltenen Modulationen und Begleitfiguren der linken Hand. Sie werden ja allzu oft zu mechanisch, zu wenig schwingend und atmend formuliert, als hätte die harmonisierende Unterstimme nicht auch eine kantable Ergänzungs-, wenn nicht gar eine initiale Funktion für einige der Nocturnes (etwa im Sinne der atmosphärischen Vorausleistung im Andante spianato, wenn die Begleitfigur für kurze Zeit sozusagen emanzipiert das Geschehen bestimmt).

Mit den ausgewählten Mazurken bewegt sich Sudbin wie eingebürgert auf polnischem Kunstmusikboden. Er kennt das Verletzliche dieser Gebilde, aber auch deren Stolz im Spannungsfeld von Herbheit und Lieblichkeit. Nicht ganz so instinktsicher schwungvoll im Vergleich zu Harasiewicz nimmt Sudbin die mittlere Sequenz in der b-Moll-Mazurka op. 24,1, aber dies und kleine weitere Abgrenzungen zu Mazurka-Matadoren wie Harasiewicz und Rubinstein trüben den Gesamteindruck nicht wesentlich. Vielmehr sind sie bei Sudbin Merkmale gereifter Persönlichkeit und eines eigenen ästhetischen Standpunktes.

In der Anlage und im rein pianistischen Vollbringen stellen die Darstellungen, ja Durchdringungen der beiden Balladen einen Modellfall beherrschten Glühens und Erzählens dar. Mitreißend der Jubel am Ende der As-Dur-Ballade – trotz aller Verve der melodischen Überhöhung ein Musterbeispiel geregelter, sinnerfüllter Virtuosenekstase.

Von den Prinzipien ausgefeilter Supertechnik ist dann Sudbins SACD-Zugabe À la minute getragen. Der unabwendbar als „Minutenwalzer" gehandelte Tanz op. 64,1 wird hier auf höchster feinmechanischer Ebene paraphrasiert, angereichert durch ein großzügiges Angebot an Doppelgriffen, kleinen akustischen Fußnoten und mutwilligen, überraschenden Akzenten in der Entzündung der Mittelteilvorlage. Neben den zahlreichen Bearbeitungen des Walzers von Moritz Rosenthal, Giuseppe Ferrata, Leopold Godowsky, L. Jorda, Aleksander Michalowski bis hin zu Frédéric Meinders ist beachtens- und empfehlenswert unter dem Walzer-Blickwinkel die BIS-Publikation mit Ullén (CD 1083). Unvergesslich, leider – soweit ich weiß – nicht greifbar ist Charles Rosens Paraphrasen- und Transkriptionsplatte, die eine rasante Darbietung des Rosenthal-Experiments enthält.

Vergleichsaufnahme: Fantasie op. 49: Cziffra (20.9.1969 /EMI 50999 213251 2).

Peter Cossé † [03.11.2011]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Frédéric Chopin
1Fantasie f-Moll op. 49 00:11:49
2Nocturne Nr. 7 cis-Moll op. 27 Nr. 1 00:04:40
3Nocturne Nr. 13 c-Moll op. 48 Nr. 1 00:05:50
4Mazurka f-Moll op. 7 Nr. 3 00:02:16
5Mazurka D-Dur op. 33 Nr. 2 – Vivace 00:02:33
6Mazurka h-Moll op. 33 Nr. 4 00:04:58
7Ballade Nr. 3 As-Dur op. 47 00:07:06
8Mazurka b-Moll op. 24 Nr. 4 00:04:26
9Mazurka cis-Moll op. 50 Nr. 3 00:04:44
10Nocturne Es-Dur op. 55 Nr. 2 00:04:12
11Ballade Nr. 4 f-Moll op. 52 Nr. 4 00:10:47
Evgeny Sudbin
12À La Minute (Paraphrase auf Chopins Walzer Des-Dur op. 64 Nr. 1) 00:04:05

Interpreten der Einspielung

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