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Besprechung CD

Fredrik Ullén plays Kaikhosru Sorabji

100 Transcendental Studies
Nr. 72-83

BIS 2223

1 CD • 79min • 2014, 2015

26.05.2016

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 9
Klangqualität:
Klangqualität: 10
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 9

Kaikhosru Shapurji Sorabji (1892-1988), Weltrekordhalter hochkomplexer und extrem langer Klavierkompositionen von bemerkenswerter Originalität und Qualität (seine Symphonischen Variationen dauern neun Stunden), schrieb seine 100 Transzendentalen Etüden (Transcendental Studies) während des Zweiten Weltkriegs, in den Jahren 1940-44 – zeitenthobener konnte es nicht sein. Und seit über einem Jahrzehnt spielt der schwedische Virtuose Fredrik Ullén dieses gigantische, siebenstündige Œuvre für BIS ein. Diesmal sind es die Etüden Nr. 72-83, und natürlich dürfen wir vor allem auf den in ein paar Jahren zu erwartenden Abschluss gespannt sein, dauern doch die auf Bach fußende Chromatische Fantasie und die anschließende fünfstimmige Fuge, die als Nummern 99 und 100 fungieren, jeweils ungefähr eine Dreiviertelstunde.

Insofern ist schon die Disparatheit des Zyklus angezeigt: die kürzesten Stücke bewegen sich im Eine-Minute-Bereich, wie hier die sehr amüsante Nummer 76 Imitationes.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sorabji wirklich davon ausging, diesen Zyklus in der verfertigten Reihenfolge aufgeführt zu hören. Doch der hier gegebene Auszug zwölf Nummern gibt einen repräsentativen Einblick in das Ganze. Nummer 72 ist ein knirschend dissonanter Ritt durch kanonische Klippen, es geht wie so oft in Sorabjis wilderen Exkursen über Stock und Stein. Es folgt das 18minütige, von inniger melodischer Kontinuität getragene ‚Quasi preludio corale’, dann ein Ostinato, das fantastisch grotesk vorzutragen und entsprechend komponiert ist. Danach eine gewaltige Passacaglia in h-Moll, hier knapp eine halbe Stunde lang und extrem unterschiedliche Aggregatzustände durchlaufend. Dann ein Schwung Miniaturen: die lustig umherhüpfenden Imitationes; ein Perpetuum mobile in Doppeloktavparallelen im 7er-Metrum; eine sehr aparte Studie, in welcher die eine Hand auf den schwarzen, die andere auf den weißen Tasten agiert, und umgekehrt; und ‚The inlaid line’, eine sehr herausfordernde Übung im gleichzeitigen Hin und Her von Staccato und (monodischem) Tenuto. Mit der verhalten murmelnd die Linien verwebenden ‚Linea melodica’ und den impressionistischen Suspensions kommen sodann zwei lyrische Nummern von luziden Qualitäten. Den Schluss dieser Folge bilden eine bizarre Studie, die ‚sordamente e oscuramente minaccioso’ zu spielen, und die kantig herausfahrenden Arpeggiated Fourths.

Fredrik Ulléns Darbietung ist, was die manuelle und intellektuelle Bewältigung des widerspenstigen Stoffs betrifft, eine gigantische Leistung. Was ich bei allen unbestreitbaren Qualitäten vermisse, ist die Korrelation der diatonischen Bezüge, die ja durchaus vorhanden sind und oftmals über lange Strecken das Geschehen in gar nicht so komplexer Weise bestimmen – da sollte man einfach erlebend mitvollziehen können, wie sich die melodisch-harmonische Spannung entwickelt, auf welchen Tönen sich die Harmonik entspannt und aus welchen sich die Gegensätze speisen und zuspitzen. Doch diese Dimension, die erst ein wirklich musikalisches Erleben ermöglicht, bleibt unerfüllt. In vielen rhythmischen Fragen ist man als Hörer ohne die Noten überfordert: macht er jetzt genau was dasteht oder nicht? Ich weiß es nicht, vermute aber besonders in einigen Fällen von punktierten Sequenzen, dass der Rhythmus binär bleiben sollte, wo er ins Ternäre verwischt. Ansonsten kann man nur staunen, wie heroisch und mit welch souveränem Willen Ullén durch diese Labyrinthe steuert, auch wenn vieles erscheint, als könne es nicht zusammenhängend zu verstehen sein. Aber wer weiß… Diese Musik lässt schon alleine aufgrund des zu bewältigenden, exorbitanten Notenpensums kaum noch Raum, sich mit subtilen Fragen der musikalischen Gestaltung auseinanderzusetzen. Und Sorabjis Tonsprache greift letztlich, bei aller Beeinflussung durch die Linie Bach-Liszt-Busoni, durch Skriabin und Godowsky, erstaunlich wenig auf vertraute Muster zurück und bewegt sich in ihrem eigenen, hermetischen Kosmos. Ich habe bisher noch keinen Pianisten gehört, der die umfangreicheren Sorabji-Werke wirklich bis auf den energetischen Grund durchdrungen hätte.

Der Booklettext vom Pianisten informiert sehr gut, der Aufnahmeklang ist auf üblich exzellentem BIS-Niveau.

Christoph Schlüren [26.05.2016]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Kaikhosru Shapurji Sorabji
1Transcendental Studies (1940/1944) 01:19:25

Interpreten der Einspielung

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