Franz Schubert
Winterreise
Lichdi Records LR 720259
1 CD • 71min • 2017
05.01.2018
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Was für eine herrlich leichte und unangestrengte Tenorstimme! Was für ein angenehmes Timbre mit angenehm wenigem Vibrato! Was für mühelose Höhen auch bei unangenehm zu singenden Vokalen wie „u“! Was für eine Klarheit, Reinheit und Helle! Was für eine perfekte Voix mixte! Was für eine genaue Artikulation! Was für genau gestanzte Verzierungen! Was für ein klingendes Piano! Tilman Lichdi hat wohl eine der schönsten Tenorstimmen der jetzigen Zeit. Die ist für Schuberts Lieder und auch dessen Winterreise eigentlich wie geschaffen.
Schon das erste Lied Gute Nacht zeigt Lichdis Lesart: nicht überinterpretierend, nicht überphrasierend, nicht überdramatisch überartikulierend, sondern einfach mitfühlend erzählend, immer dem Duktus der Melodie folgend und so manche Kommatas dabei übersingend, bisweilen in die Nähe zum Wandervogel, zum Naturburschen, zum Müllersburschen aus Die schöne Müllerin geratend, bisweilen das Naive streifend. Er beherzigt Fischer-Dieskaus Mahnung, nur keine Lamoyanz und „Tiefe der Empfindung, nicht psychologische Verfeinerung“ (so Fischer-Dieskau) zu zeigen. Allerdings entgeht er auch nicht immer dem Diktum Fischer-Dieskaus (all dies in seinem Buch „Auf den Spuren der Schubertlieder“): „Eine mittlere Norm des Schönklangs für alle 24 Lieder könnte hier nur Einförmigkeit aufkommen lassen.“
Am besten ist Lichdi, wenn er erzählt, berichtet, widergibt, sich in süße Erinnerungen verliert. So singt er ganz erinnerungszärtlich die letzte Strophe von Gute Nacht, so singt er den Lindenbaum in kunstvoller Schlichtheit, so spricht er die Krähen in Die Krähe ganz lebendig an, so holt er in Auf dem Flusse artikulatorisch die geheime Alliteration von „Grußes“ und „ging“ heraus, so zeigend, dass im Beginn schon da Ende angelegt ist, so gelingt ihm in diesem Lied eine großartig eindringliche Schlusssteigerung und überrascht am Ende des Frühlingstraumes mit einem sehnsüchtigen Crescendo, das so nicht in den Noten steht.
Weniger deutlich kommt die Todesverzweiflung heraus: Wenig Drängen des Dringens in Gefrorne Tränen, wenig vom Wüten des Feuers von Emotionen, wie es Ian Bostridge in seinem „Winterreise“-Buch beschreibt, der Schnee in Erstarrung wird eher weniger von den heißen Tränen durchdrungen und die fragende Hoffnung wird nicht hörbar, weil Lichdi keine neue Farbe in seine weiße Tenorstimme bringt und auch kein Fortissimo am Ende. Man muss ja nicht so weit gehen wie Bostridge, der zu diesem Lied schreibt: „Krampfhafte sexuelle Rigidität und virulentes sexuelles Verlangen treiben dieses Lied an.“ (Ian Bostridge, Schuberts Winterreise, S.102). Aber ein bisschen davon möchte man schon hören. Und man möchte auch gerne hören mehr stürmisch-heftige Dramatik in Der stürmische Morgen oder gar in Mut, dieser - laut Bostridge - „Schlachthymne des Ungläubigen“.
Insgesamt aber hört man Lichdis Stimme so gerne zu, dass man sich diese schon so oft gehörte Geschichte einer Winterreise in den Tod einfach erzählen lässt ohne Überanstrengung einer ganz besonderen Interpretation und ohne Überdramatisierung. Wenn man boshaft wäre, könnte man sagen, dass man sich bei Lichdi von Fischer-Dieskau erholen kann…
Genau dazu passt die Version auf dieser CD mit einer Gitarrenbegleitung statt eines Klaviers. Das passt genau zum Wanderburschen-Image. Und man hört voller Staunen, wie gut diese Adaption ist. An manchen Stellen klingt dieSchubert‘sche Klavierbegleitung eh an eine Gitarre an. Klaus Jäckle gelingt das Kunststück, nicht nur die Klavierbegleitung notengenau auf die Gitarre zu übertragen, sondern manchmal sogar präzisere Wirkungen zu erzielen. So zelebriert Jäckle geradezu jeweils Übergänge von Moll zu Dur und umgekehrt. So realisiert Jäckle mit der Gitarre genau Schuberts Vortragszeichen, die so manche Klavierbegleiter immer ins Schnelle übersehen. Die Staccati in Auf dem Flusse wirken gezupft doppelt staccatohaft, das Lockende der Triolen im verlockenden Irrlicht kommt deutlich heraus, das Krähen der Hähne im Frühlingstraum wirkt klirrend kalt und schön betonte Jäckle hier die Basslinien. Das Trübe der Wolke in Einsamkeit steckt schon im trostlos-harten Gezupfe drin.
Vollends überzeugend ist das letzte Lied, der so unendlich trostlose Leiermann. Tilman Lichdi schaltet sein geringes Vibrato ganz herunter, bleibt aber noch im melodischen Singen, verrät nicht die Musik an bloßen Sprechgesang. Gleichzeitig lässt er sprachlich mit lange knurrendem „r“„die Hunde knurren“ und am Ende entgleitet ihm – aber genau berechnet – der Rhythmus etwas, lässt er die Melodie schneller laufen - als ob die Leier leer liefe. Dazu zupft der Gitarrist diese leeren Akkorde, die aber auf der Gitarre immer klingen: Das Letzte, das Düsterste, das Leerste, der Tod, geht voll in Musik auf. Die Musik hat das letzte Wort. Wunderschön und ergreifend.
Rainer W. Janka [05.01.2018]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Franz Schubert | ||
1 | Gute Nacht op. 89 Nr. 1 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:05:39 |
2 | Die Wetterfahne op. 89 Nr. 2 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:01:39 |
3 | Gefrorne Tränen op. 89 Nr. 3 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:02:33 |
4 | Erstarrung op. 89 Nr. 4 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:03:07 |
5 | Der Lindenbaum op. 89 Nr. 5 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:04:59 |
6 | Wasserflut op. 89 Nr. 6 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:04:11 |
7 | Auf dem Flusse op. 89 Nr. 7 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:03:32 |
8 | Rückblick op. 89 Nr. 8 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:02:15 |
9 | Irrlicht op. 89 Nr. 9 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:02:30 |
10 | Rast op. 89 Nr. 10 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:03:15 |
11 | Frühlingstraum op. 89 Nr. 11 D 911Nr. 11 (aus: Die Winterreise) | 00:03:15 |
12 | Einsamkeit op. 89 Nr. 12 D 911 Nr. 12 (aus: Die Winterreise) | 00:02:40 |
13 | Die Post op. 89 Nr. 13 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:02:13 |
14 | Der greise Kopf op. 89 Nr. 14 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:02:49 |
15 | Die Krähe op. 89 Nr. 15 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:02:06 |
16 | Letzte Hoffnung op. 89 Nr. 16 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:01:49 |
17 | Im Dorfe op. 89 Nr. 17 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:02:59 |
18 | Der stürmische Morgen op. 89 Nr. 18 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:00:55 |
19 | Täuschung op. 89 Nr. 19 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:01:24 |
20 | Der Wegweiser op. 89 Nr. 20 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:04:21 |
21 | Das Wirtshaus op. 89 Nr. 21 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:03:25 |
22 | Mut op. 89 Nr. 22 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:01:27 |
23 | Die Nebensonnen op. 89 Nr. 23 D 911 (aus: Die Winterreise) | 00:02:40 |
24 | Der Leiermann op. 89 Nr. 24 D 911 Nr. 24 (aus: Die Winterreise) | 00:03:21 |
Interpreten der Einspielung
- Tilman Lichdi (Tenor)
- Klaus Jäckle (Gitarre)