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Besprechung CD

Strawinsky

Chant funèbre • Le Sacre du Printemps

Decca 483 2562

1 CD • 70min • 2017

20.02.2018

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 10
Klangqualität:
Klangqualität: 10
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 10

Klassik Heute
Empfehlung

Vor zwei Jahren wurde bei Renovierungsarbeiten im St. Petersburger Konservatorium der komplette Stimmensatz der verschollenen Ode funèbre gefunden, die Igor Strawinsky 1908 als sein Opus 5 zum Tode seines Lehrmeisters Nikolai Rimsky-Korsakov geschrieben hatte, und die seither verschollen war. Strawinsky hielt diese instrumentale Ode für sein bestes Frühwerk, also für das Beste, was er vor dem 1910 vollendeten Ballett L’oiseau de feu geschrieben hat, und tatsächlich ist sie in seiner stilistischen Entwicklung der große Missing link zwischen der kapriziös funkelnden Partitur von Feu d’artifice und dem Feuervogel: schon weit eigenständiger als alles Vorangegangene, besonders bezüglich der Harmonik und natürlich der zunehmend anarchischen Dissonanzbehandlung. Nachdem Valeri Gergiev als König des russischen Musiklebens aus der wiedererstellten Partitur die Ehre der ersten Wiederaufführung nach über einem Jahrhundert zuteil geworden war, geht das gut zehnminütige Stück nun rasch um die ganze Welt und jeder möchte an seinem Ort der Erstaufführende sein. Die andere große Ehre – diejenige der Ersteinspielung – sicherte sich das Universal-Label Decca und engagierte hierfür Riccardo Chailly und das schlicht phänomenal besetzte Lucerne Festival Orchestra.

Die Zusammenstellung ist zunächst sehr aufschlussreich und plausibel: die Ode funèbre macht den Anfang, und dann geht es Schritt für Schritt zurück vom Opus 4 bis zum Opus 2: Feu d’artifice, Scherzo fantastique und Le faune et la bergère – das Opus 1 wäre dann die große Symphonie in Es gewesen, mit der Strawinsky seine handwerkliche Reife in der St. Petersburger Tradition bewies und sich als würdiger Fortführer der ehrwürdigen Rimsky-Korsakov-Schule präsentierte. Doch stattdessen gibt es hier den Sacre du printemps, und das ist das einzige, was ich an dem Programm für nicht so glücklich halte. Am besten wäre es gewesen, nun die Feuervogel-Suite von 1911 oder 1919 zu präsentieren, in welcher sich zeigt, welche Musik unmittelbar aus den Erfahrungen mit der Ode funèbre als nächstes hervorging: zuerst Blick zurück, dann Blick nach vorn. Nun geht der Blick eben sehr weit nach vorn (schon Pétrouchka wäre übers Ziel hinaus geschossen), und es ist für den unvorbelasteten Hörer schwer vermittelbar, was die dann doch vergleichsweise harmlos schöne Ode mit den ruppigen Elementargewalten und rituellen Beschwörungsformeln des Sacre zu tun hat. Andererseits ist Sacre in jedem Fall ein wirkungssicheres Schlussstück.

Jedenfalls kann man hier retrospektiv wunderbar nachvollziehen, wie sich Strawinsky Schritt für Schritt aus der akademischen russischen Tradition herausgelöst hat. Für meinen Geschmack zu vibratoreich vorgetragen von der Mezzosopranistin Sophie Koch und auch in der Tempoauffassung mit den vielen übertriebenen Schwankungen zu sehr romantisierenden Tendenzen verhaftet, ist die dreisätzige knappe Puschkin-Vertonung Der Faun und die Schäferin noch eindeutig ein Produkt der Schule, ungefähr so modern wie auch manches vom neun Jahre älteren Nikolai Tscherepnin. Man kann hier bei aller offenkundigen Suche nach der eigenen Stimme noch nicht ahnen, was aus Strawinsky werden wird. Im Scherzo fantastique gibt es dann schon einige Momente mehr, die den herkömmlichen Rahmen überschreiten, andererseits ist aber hier in der wunderbar farbigen, brillanten und idiomsicheren Behandlung des großen Orchesters der Großmeister der Orchestration, Rimsky-Korsakov, fast schon omnipräsent. Der erste wirklich spürbare Schritt der Ablösung ist dann das Feuerwerk, und nun kommt die Ode funèbre und eröffnet tatsächlich, ohne das irrlichternde Spektakel der beiden Vorgängerstücke, nachhaltiger neue Klangwelten. Besonders bemerkenswert ist, dass es sich hier um eines der symphonischsten Werke Strawinskys handelt, also um eines jener seltenen Beispiele, wo er nicht (als prädestinierter Ballettkomponist!) mit ständiger Alternanz und fortwährender Unvorhersehbarkeit operiert, sondern tatsächlich organisch eine lange Entwicklung anstößt, einen großen Bogen beschreibt (wie z. B. auch im Schlussteil der Feuervogel-Suite oder im Finale der Psalmen-Symphonie).

Alle diese Stücke sind mit höchstem instrumentalen Können und großer Hingabe gespielt, und Riccardo Chailly kommt seine lebenslange intensiv gepflegte Erfahrung mit der klassischen Moderne des 20. Jahrhunderts zugute. Natürlich ist der Sacre die Hauptangelegenheit, nicht nur hinsichtlich der Dauer, sondern eben auch der Substanz und Originalität. Und es wird ein ausgezeichneter Sacre dargeboten – das Stück, das einst der Schrecken der Top-Orchester war, hat im Angesicht der extremen Avantgarde nach dem 2. Weltkrieg einiges von seinem provokanten Schrecken verloren, und vor allem sind die Musiker mit dem Monster gewachsen, und in Frankreich spielen es ‚Les Dissonances’ sogar, auf exzellentem Niveau, ohne Dirigent. Die Zeiten haben sich geändert. Die vorliegende Aufführung profitiert also von der Vertrautheit mit der Tonsprache und den wilden Rhythmen und Querschläger-Akzenten, von der herausragenden Spielkultur auf allen Positionen des Festspiel-Orchesters, und von einer perfektionierten Aufnahmetechnik, wie sie früher nicht zur Verfügung stand, weswegen auch der an sich legitime Vergleich mit Pierre Monteux, Eugene Goossens oder gar Leopold Stokowski nicht sehr ergiebig ist. Man kann natürlich ahnen, dass deren Aufführungen im Lyrischen viel reicher und zarter waren, doch so richtig hören kann man das bei der damaligen Aufnahmequalität kaum. Jedenfalls ist auch hier unter Chailly die Ausdruckspalette viel mannigfaltiger als auf vielen neueren Aufnahmen seit Igor Markevitch, die es einfach überwiegend martialisch krachen lassen, wo der Komponist das wünscht, und den Rest irgendwie mitexerzieren. Doch das Unbarmherzige, Brutale wirkt da am krassesten, wo es auf das Zarte, Innige trifft – also je weiter die divergierenden Dimensionen des Ausdrucks vertieft werden, desto schärfer erscheinen die charakteristischen Konturen. Aufnahmetechnisch hört man hier – vor allem in den Holzbläsern – wie zu erwarten vieles frappierend deutlich, was eigentlich von Stärkerem zugedeckt würde. Aber das, wie auch die unvermeidliche Nivellierung des dynamischen Gesamtumfangs, ist mit ausgezeichnetem Geschmack umgesetzt. Dass der Booklettext von Stephen Walsh interessant und informativ ist, musste erwartet werden. Jeder, der wirklich interessiert an Strawinsky oder allgemein der Musik des vergangenen Jahrhunderts ist, kommt um den Erwerb dieser CD nicht herum. Auch wenn die wiederentdeckte Ode sicher noch feinsinniger und schwereloser in den Übergängen realisieren werden kann, so wird hier doch ein repräsentativer und attraktiver Eindruck vom so lange verschollenen frühen Meisterwerk vermittelt.

Christoph Schlüren [20.02.2018]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Igor Strawinsky
1Chant funèbre op. 5 00:10:30
2Feu d'artifice op. 4 00:03:55
3Scherzo fantastique op. 3 für Orchester (Der Bienenflug, 1907/8) 00:11:51
4Le Faune et la Bergère op. 2 00:10:09
7Le Sacre du Printemps (Bilder aus dem heidnischen Rußland in zwei Teilen) 00:33:54

Interpreten der Einspielung

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