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Besprechung CD

Berlioz

Roméo et Juliette

Naxos 8.573449-50

2 CD • 1h 59min • 2014

10.05.2019

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 8
Klangqualität:
Klangqualität: 9
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 8

Der Umgang mit Berlioz verlangt vom Dirigenten eine Art chemischen Konnexes mit der visionären und als solcher immer gebrochen-reflektierten Geistesart dieses Phänomens. Das gilt im Blick auf Roméo et Juliette gesteigert. Dieses Werk ist weder „Konzertoper“ noch „Kantate“, sondern ganz und gar ein neues Genre aus dem Geiste seines Komponisten: eine „Dramatische Symphonie“, die eine Tragödie Shakespeares nicht darstellt, sondern reflektiert und musikalisch deutet. Interpretation heißt hier, Hegels ästhetische Maxime vom Umschlag der Gattungen ineinander radikal umsetzen – da ist das eine auch immer das andere: erzählte Geschichte, momentanes Ereignis, lyrisch belauschte Seele, aber auch Kommentar! Realisiert man das ganze Opus, ist dieser Ansatz unerlässlich. Und er muss auch noch französisch sein, sprich: mit „esprit“ gemacht, also Distanz wie Engagement gleichermaßen zeigen.

Wie gut, dass sich Leonard Slatkin umfassend mit Berlioz auseinandersetzt in einer Reihe von Aufnahmen aus Lyon bei Naxos – nach der Symphonie fantastique und Harold en Italie nebst Ouvertüren nun Roméo, auch mit Ouvertüren gekoppelt und wirkungssicher realisiert: Béatrice et Bénédict und Le Roi Lear. Naxos setzt auf unaufwändige Ausstattung, sachlich, niveauvoll betextet von Keith Anderson. Slatkin, der weltweit bewährte amerikanische Universalist, der sich durch seine Jahre als Chef in Lyon gleichsam französisch geortet hat und mit genuin französischen Kräften aus dem Opernhaus der Stadt zu arbeiten vermag, gibt dem Hörer viel Zutrauen, auf der richtigen Berlioz-Spur zu sein, sprachlich vollkommen natürlich, wodurch vornehmlich die Chöre nie vordergründig-expressiv und übermächtig wirken, zudem die Soli stimmig besetzt sind: zarter Tenor (Julien Behr), profunder Bass (Frédéric Caton), wobei das Mezzo-Solo bei Marion Lebègue besondere Distinktion gewinnt, was wiederum für den epischen Duktus wichtig ist; denn Berlioz wagt es, das Drama der Weltgeschichte aus Shakespeares Hand musikalisch nachzuerzählen und zwar so, wie es in seiner Vorstellung lebt, wobei es für die großen Liebenden keine Rollen gibt, dieselben vielmehr absolut-musikalisch zum Zuge kommen: als reine Musik – wobei in Slatkins Aufnahme die stets nobel gespielten Soli des Orchestre National de Lyon zarte Plastik schaffen. Slatkin – ein, wie man weiß, nicht nur weltweiser Praktiker, sondern auch seinen Stand kritisch reflektierender Maestro (seine Schriften beweisen es) – gelingt vorzügliche Balance: nie verfällt er ins Drama, gar in den Abgrund des Opernhaften, was, durchaus faszinierend, sogar dem großen Toscanini passiert. Und er wird nie verführt, monumental zu werden – was etwa den Berlioz-Apostel Sir Colin Davis da und dort „unmodern“ macht bei allen Meriten. Die Falle, zu absolut-symphonisch zu sein und programmatisch aufgeschwollene Beethoven-Gestik zu liefern, was häufig vorkommt, umschifft Slatkin durch seinen moderaten Zugriff bestens: das Bizarre der Partitur gleicht er zugunsten des Gesamten dramaturgisch aus, nimmt das Pathetische diskret, objektiviert gleichsam das Autobiographische dieser Musik und dient ganz und gar dem Werk Roméo et Juliette.

Was Slatkins Besonnenheit opfert, ist schlichtweg der Wahnsinn dieser Musik. Und der hat verschiedenste Gestalten. Es fehlt das Radikale, das Gewaltige der Einzelmomente – wo der Interpret den jähen Abgrund mitleben muss im Umschlagsprozess der Gattungen. Und da sichert sich Slatkin hochbewußt ab: zugunsten der Verständlichkeit des Ganzen. Berlioz aber ist eben am Ende nicht wirklich verständlich, sondern gewissermaßen auch programmatisch-visionäre Willkür in seinem futuristischen Konzept, mit Tradition und Kultur subjektiv umzugehen. Slatkins Mittelweg ist sachlich überzeugend – aber ungefährlich. Und Gefahr ist zumindest auch ein zentraler Nerv dieser Musik. Man denke nur an die geisterhafte Szene „Roméo au tombeau des Capulets“, mit der Berlioz Shakespeare umdichtet, weil er das Erlebnis der Deutung des englischen Meisterschauspielers Garrick aufnimmt und Julia vor beider Liebenden Tod noch einmal erwachen lässt – und das komponiert Berlioz als rein instrumentale Szene von absurder Jenseitigkeit … kaum darstellbar, und er schreibt expressis verbis als Fußnote in die Partitur, man solle die Szene bei Aufführungen besser streichen, denn sie setze „gebildetes Publikum mit einem ausgeprägten Gefühl für Poesie“ voraus: „Der gewöhnliche Zuhörer hat gar keine Phantasie; die Stücke, die sich ausschließlich an die Phantasie wenden, sind für solches Publikum nicht geeignet.“ So Berlioz. Für solches Publikum etwa arbeitet die Aufnahme von Sir John Eliot Gardiner, der man Ästhetisierung vorwerfen könnte, die aber jene „sophistication“ des Berlioz’schen Zugriffs perfekt realisiert. Am besten, man lernt das Werk von Grund auf kennen durch Slatkin; erfasst es in seiner Intellektualität durch Gardiner und erlebt es in der alle Momente, gerade in der Ästhetik des Hegelschen Umschlags, wundersam elegant vollziehenden Londoner Aufnahme von 1962 (bei Westminster): dirigiert vom legendären Pierre Monteux. Er trifft vollendet, vor allem orchestral, den subjektiven Ton des Hector Berlioz – nicht anders als die Modellaufnahme der Symphonie fantastique unter den Händen des unvergleichlichen Sir Thomas Beecham, von dem wir leider keine Roméo-Aufnahme besitzen: Beecham gelingt mit geradezu lächelnder Eleganz die Vermittlung von intellektueller Diskretion und radikaler Expression – also: die Quadratur des Kreises …

Georg-Albrecht Eckle [10.05.2019]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Hector Berlioz
1Roméo et Juliette op. 17 (dramatische Sinfonie nach Shakespeares Trauerspiel) 01:58:30
CD/SACD 2
9Béatrice et Bénédict op. 27 00:08:11
10Le Roi Lear op. 4 (Konzertouvertüre) 00:15:14

Interpreten der Einspielung

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