Georg Philipp Telemann
Schwanengesang
The Last Orchestral Works
cpo 555 533-2
2 CD • 2h 17min • 2014, 2018, 2016
27.04.2023
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Ein Alter von 86 Jahren zu erreichen ist für einen Komponisten im 18. Jahrhundert eine Besonderheit. Mit 86 Jahren aber noch so eminent und vielfältig produktiv zu sein, ist noch erstaunlicher. Was Georg Philipp Telemann, der ja Zeit seines Lebens so ungemein fleißig gewesen ist, noch kurz vor seinem Tod melodisch, stilistisch und variabel zu Papier gebracht hat, ist fast unvorstellbar. Als „Schwanengesang“ betitelt Michael Schneider und sein Einsemble La Stagione Frankfurt diese Sammlung von Ouvertüren und Sinfonien, die Telemann in seinen letzten Jahren komponiert und Ludwig VIII., Landgrafen von Hessen-Darmstadt, gewidmet hat. Sie sind 1834 im Nachlass von Telemanns Enkel Georg Michael Telemann von Georg Poelchau in Riga entdeckt worden. Es sind die letzten Orchesterwerke Telemanns.
Rätselhaft und wundersam
Als „rätselhaft und wundersam“, als „ergreifende Dokumente von Telemanns Spätstil“ und als „melancholischen Rückblick auf ein überbordend kreatives Leben“ beschreibt im Booklet Wolfgang Hirschmann, der Editionsleiter der Telemann-Ausgabe im Bärenreiter-Verlag, diese Sammlung. Alles ist zutreffend. Beim Hören staunt man immer wieder: Gravitätische Ouvertüren im französischen Stil, eine Abfolge von gleich sechs Scherzi hintereinander, Musik, die die Gicht beschreibt, Musik, die die Jagdfreuden bejubelt, geistvolle Salongespräche imitiert oder ironisch-weise Tanzformen aus dem 16. Jahrhundert formvollendet komponiert und gleichzeitig fast karikiert, dazu gibt’s feine Echowirkungen wie ein kleines Fernorchester, sehr melodische Klagen im Streichersamtklang mit arpeggierender Laute: wahrlich rätselhaft und wundersam zugleich.
Mit Gicht ins Freudenhaus
Mit hörbarem Vergnügen spielen die Musiker von La Stagione Frankfurt diese geistsprühende und immer wieder überraschende Musik, in äußerst präzisem und kompaktem Orchesterklang wie aus einem Guss, immer rhythmisch federnd, ja tanzend, lebensfreudig-schwungvoll und so bildkräftig-plastisch, dass man förmlich die seidenbestrumpften höfischen Beine und plateaubesohlten Schuhe über das gewienerte Parkett schleifen sieht. Reizend der Oboen-Zweigesang (CD 1, Take 4), kichernde Trompeten (CD 1, Take 12) – und herrlich klingt das auskomponierte Gliederreißen in dem Satz „Podagre“ (Ludwig VIII. litt darunter) samt Schmerzensgestöhn mittels langgezogener Geigenklagekaute. Als Heilmittel dagegen empfiehlt der Komponist den Besuch in einem „Petite-Maison“, wo die Frauen wie Furien über den Besucher herfallen.
Hörner rufen zur Jagd
Schier unglaublich sind die Fülle von schmunzelndem Humor, die Gewalt des Temperaments („Très vite“ oder Vivement“ oder „Arlecchioso“ oder gar „Veloce“ heißen die Tempo-Angaben beispielsweise) und die Kraft der bildgebenden Erzählung des greisen Telemann: Auf der CD 2 gehören zwei Werke der Jagd. Zu der rufen in der Ouvertüren-Suite F-Dur die fabelhaften, sauber intonierenden, hochagilen und – wenn’s verlang ist – auch leisweichen Hörner, zu denen die Geigen in der Bourrée fast wie ausgelassene Jagdpferde galoppieren. Alles endet in einem brausenden „Tempête“, also einem Sturm. Und auch das Divertimento Es-Dur in der aparten Besetzung mit Flöten, Hörnern, Fagott und Streichern lädt zur Jagd mit einem Frühstück im Freien, bis die Hörner zur Jagd blasen, worauf ein Picknick im Grünen folgt, bis alle freudig erschöpft heimwärts traben, mit allen Instrumenten farbkräftig geschildert, sogar die Geigen hüpfen vergnügt. Springlebendig musiziert das La Stagione, immer sehr sauber und rhythmisch hochanimiert.
Musikalische Schatzkammer
Aber auch die ausdrucksvolle Langsamkeit beherrscht Telemann, vor allem in der Tanzform der „Loure“, die in oft ausschweifender Melodik Pracht, Hoheit, Stolz und Würde vermittelt., bisweilen auch melancholische Tiefgründigkeit. Alle Stücke auf dieser Doppel-CD lassen den Hörer immer wieder staunen und geben Wolfgang Hirschmann recht, wenn der im Booklet das alles eine „Schatzkammer später Instrumentalmusik Telemanns“ nennt: Bei Telemann wird man noch lange Zeit immer noch neue Schätze heben können.
Obwohl in verschiedenen Sälen aufgenommen, klingt alles gleich plastisch, unmittelbar, allenthalben trennscharf und transparent.
Rainer W. Janka [27.04.2023]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Georg Philipp Telemann | ||
1 | Ouvertüren-Suite D-Dur TWV 55:D21 (pour Mr le Landgrave Lous VIII d'Hessen-Darmstadt) | 00:18:25 |
8 | Divertimento A-Dur TWV 50:22 | 00:09:39 |
12 | Ouverture D-Dur TWV 55:D22 (Ouverture, jointes d'une suite tragi-comique) | 00:15:12 |
19 | Sinfonia melodica C-Dur TWV 50:2 | 00:09:52 |
26 | Ouvertüren-Suite D-Dur TWV 55:D23 | 00:20:53 |
34 | Fanfare D-Dur TWV 50:44 | 00:01:31 |
Interpreten der Einspielung
- La Stagione Frankfurt (Orchester)
- Michael Schneider (Dirigent)