Johannes Motschmann
Aion
Berlin Classics 0303487BC
1 CD • 58min • 2023
03.09.2024
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Die sogenannte Künstliche Intelligenz geistert oft wie ein Schreckgespenst durch die Welt der Kulturschaffenden. Aber ist es hier überhaupt sinnvoll, von „Intelligenz“ zu reden, wo es zunächst nur um immer effektivere Verfahren der Datenverarbeitung und -vernetzung geht und wo deren sinnvolle, ergebnisorientierte Anwendung immer noch eine Sache des menschlichen Willens und ja der Kreativität ist? Wer auf der Höhe der Zeit agiert, egal in welcher Disziplin, schöpft das Beste aus neuen Möglichkeiten, aber immer dem Willen, etwas eigenes und echtes daraus zu formen.
Experimentelles Komponieren
Eine neue Arbeit des Komponisten Johannes Motschmann zusammen mit dem Ensemble Modern und dem SWR Experimentalstudio lässt eben solche Gedanken naheliegend erscheinen. Motschmanns künstlerisches Selbstverständnis schließt auf jeden Fall nicht aus, auch dezidiert technikafin zu sein. Seit 2019 arbeitet er mit dem Musikinformatiker Thomas Hummel vom Experimentalstudio des SWR an der Software AION – einer Echtzeit-KI, die auf Mustererkennung basiert und in der Lage ist, Musik in Echtzeit umzuformen, zu erweitern oder auch aus dem Nichts entstehen zu lassen. Aus diesen Experimenten ist nun die Komposition AION entstanden. Zwar tobt sich der Algorithmus einer Maschine ordentlich aus, wenn vor allem ein automatisiertes Klavier zum Einsatz kommt, aber drumherum lassen sich die feinfühligen Musikerinnen und Musiker dieser Aufnahme niemals ihren aktiven Part streitig machen, sodass es nicht seelenlos, sondern im Gegenteil oft kontemplativ, ja spirituell klingt.
Das Klavier im Zentrum
Ätherische Klangimpressionen, Patterns, wie wir sie auch von Stücken Steve Reichs kennen, gepaart mit einem hervorragenden Gespür für additive Verfahren und sich verdichtende dynamische Prozesse, sind der Stoff, aus dem die hochmotivierten Mitglieder des Ensemble Modern in den Dialog mit der „Maschine“ treten. Das Klavier, das im Zentrum steht, „beantwortet“ die spielerischen Gesten des Orchesters meist eigenständig. Aus so etwas erwachsen erweiterte, auch zufalls-generierte Rollen im Prozess des Musikmachens. All diese Elemente fügen sich zu einem durchgehenden Bogen zusammen, genau so, wie Motschmann bei seinen Kompositionen nicht um singuläre Verläufe, sondern vielmehr um Texturen geht – was besonders für die ersten vier Stücke Drones and Cycles gilt. Con spirituo vollzieht einen Übergang zu stationäreren Klangimpressionen, in denen das Schlagwerk für viel obertonreichen Klangzauber sorgt.
Verdichtete Arrangements
Ritournelle heißt ein Stück, in dem auf spätromantische Klangmassen angespielt wird. Dieses Geister-Piano in funkelndem Selbstspiel weiß darauf angemessen zu reagieren. Schwere rhythmische Synkopenimpulse kontrastieren mit flirrenden Streicherflagoletts und bringen immer neue Gesten- und Metrenwechsel im Stück Fanfares and Latent Cycles hervor. Die Herausforderung bleibt, bei den oft sinfonisch verdichteten Arrangements, in denen auch viele Blechbläser involviert sind, die Transparenz zu wahren. Hier zeigt sich die Versiertheit des Frankfurter Ensemble Modern, sich rasend schnell und ohne Umwege auf jedes noch so spieltechnisch akrobatische Abenteuer einzulassen. Fazit: AION garantiert ein abwechslungsreiches und sinnliches Hörvergnügen, wenn es neue Techniken, die nicht mehr verschwinden werden, mit der menschlichen Dimension und ihrem Erfahrungsschatz konfrontiert. Das wie immer hervorragend aufgestellte Ensemble Modern lässt sich auf jeden Fall durch die technische Übermacht niemals unterkriegen.
Stefan Pieper [03.09.2024]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Johannes Motschmann | ||
1 | AION für großes Orchester, Künstliche Itelligenz und Elektronik | 00:58:00 |
Interpreten der Einspielung
- Ensemble Modern (Ensemble für neue Musik)
- SWR Experimentalstudio (Elektronik)
- Peter Tilling (Leitung)