Winter-Legenden
Bax • Holst • Suk • Tschaikowsky
Die dunkle Jahreszeit übt auf Komponisten bis heute eine ungebrochene Faszination aus. Aus der großen Schatzgrube an Winter-Stücken hat »Klassik heute« vier Werke aus ganz unterschiedlichen Genres ausgesucht. Ob Sinfonie, Klavierkonzert, Konzert-Ouvertüre oder sinfonische Dichtung – Komponisten fanden zum Ausdruck winterlicher Gefühle, ohne billige Klischees von Eis und Schnee bemühen zu müssen. Winter findet hier vielmehr auf seelischer Ebene statt, wird zum Symbol für innere Seinszustände. Und wo könnte man derlei besser finden als in England mit seinem überwiegend unfreundlichen Wetter und in Rußland mit seinen schneebedeckten Weiten?
- Bax: Winter Legends
- Holst: A Winter Idyll
- Suk: Ein Wintermärchen
- Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 1 g-Moll op. 13 ( Winterträume)
Peter Tschaikowsky (1840–1893)
Der g-Moll-Erstling des 26 Jahre alten angehenden großen Sinfonikers von 1866/67 ist ein dunkel gefärbtes, beinahe tragisches Werk, das erst im Finalsatz durch Kampf zum Licht gelangt – ähnlich wie die ziemlich genau zur gleichen Zeit entstehenden c-Moll-Erstlinge von Bruckner (1865/66), Dvořák (1865) und Brahms (1862–1876). In dieser Zeit versuchte sich der frischgebackene Absolvent des Konservatoriums gerade freizuschwimmen, menschlich wie künstlerisch. Zur Durchsetzung seiner ersten Werke war er freilich auf Gönner angewiesen, die ihm mitunter zu Umarbeitungen rieten. Auch gegen die erste Sinfonie hatte sein früherer Lehrer Anton Rubinstein Einwendungen und lehnte das Werk zweimal ab; 1874 sollte es erneut umgearbeitet werden. Der publikumswirksame Titel entstand wohl erst aufgrund des Datums der Uraufführung, die im November 1868 stattfand. Nur die ersten beiden Sätze tragen Titel – Träumerei auf winterlicher Fahrt und Rauhes Land, Nebelland. Winterlich ist die Stimmung der Sinfonie allerdings, doch hat man den Eindruck, dass dies mehr innere Seelenzustände als ein äußeres Programm betrifft.
Josef Suk (1874–1935)
Der Konzertouvertüre op. 9 von Josef Suk liegt ein britisches Sujet zugrunde, nämlich Shakespeares berühmtes Wintermärchen. Warum Suk 1894 gerade dieses Eifersuchts-Stück wählte, ist unklar. In seinem Leben lief es nämlich ziemlich gut: 1891 war er Lieblings- und Meisterschüler von Antonin Dvořák geworden, hatte mit seiner Dramatischen Ouvertüre op. 4 und seiner Streicherserenade op. 6 sensationelle Erfolge zu verzeichnen, war 1893 Geiger in dem erstrangigen Böhmischen Streichquartett geworden, und hatte gerade Dvořáks Tochter Otylka kennengelernt, die er 1898 heiraten sollte. Wenn auch diese Ouvertüre in der ersten Blüte großen Talentes noch unter dem Einfluß von Dvořák und Wagner steht, kündigt sich in manchem schon die gewichtige erste Sinfonie E-Dur op. 14 an (1897–1899) an; auch die Orchesterbehandlung ist bereits meisterhaft und verrät in nichts, dass es sich um das Werk eines gerade 20 Jahre alten Kompositionsstudenten handelt.
Gustav Holst (1874–1934)
Das heute vergessene Tonpoem Winter Idyll entstand ungefähr zur gleichen Zeit und in einer ähnlichen Situation des Komponisten wie bei Suk: Holst war seit 1893 Student an der renommierten Royal Academy. Bis zu seinem Studienabschluß im Jahr 1898 komponierte er eine Anzahl ambitionierter Sturm-und-Drang-Werke, die heute weitgehend vergessen sind. Das liegt weniger an ihrer musikalischen Qualität als an der Haltung seiner Erbin, der Dirigentin Imogen Holst, die sich lange Zeit gegen eine Verbreitung dieser Frühwerke ihres Vaters sperrte. So sorgte erst im letzten Jahr die Ersteinspielung seiner frühen Cotswolds Symphony (1899) für Aufsehen. Über den Anlaß oder den programmatischen Hintergrund von A Winter Idyll ist wenig bekannt. Das Stück entstand 1897 und hat den Drive eines sinfonischen Kopfsatzes – wer weiß, ob dies nicht wirklich eine Sinfonie werden sollte? Das Werk steht noch unter Einfluß seines Lehrers Charles Villiers Stanford, aber auch Grieg- und Schumann-Anklänge sind zu hören (Finale aus dem Klavierkonzert), und es ist im spätromantischen Idiom geschrieben, wie auch die beiden Werke von Suk und Tschaikowsky.
Arnold Bax (1883–1953)
Die Winterlegenden von Arnold Bax, komponiert im Winter 1929/30, sollten ursprünglich seine vierte Sinfonie werden. Er schlug später vor, es am besten eine „Sinfonia Concertante“ zu nennen, denn die Form des ersten Satzes sei zu rhapsodisch für einen Sinfoniesatz, befand der Komponist. Das Klavier spielt zwar eine prominente Rolle, aber nicht im Sinne eines klassischen Virtuosenstückes, sondern mehr wie ein Erzähler der Legenden. Ursprünglich war das Stück Sibelius gewidmet; und manches darin erinnert wirklich an dessen nordische Klangwelten. Die vier Lemminkäinen-Legenden haben beispielsweise nicht nur einen ähnlichen Titel, sondern könnten mit einigem Recht ebenso eine verkappte Sinfonie genannt werden wie dieses Werk. Später widmete Bax es dann seiner Lebensgefährtin, der Pianistin Harriet Cohen, die am 10. Februar 1932 auch die Uraufführung gab.
Shakespeares Wintermärchen
Winterlegende wäre ein passenderer Titel für Holst gewesen: Das Idyll steht vielmehr in e-Moll und beginnt mit einem dramatischem Motto und einem nordisch-elegischen Hauptthema von Oboe und Bratschen. Ohne Umschweife folgt zwar eine hellere Fortführung mit slawisch-pastoralem Einschlag (Klarinetten), aber das dramatische Motto vom Anfang kehrt bald zurück. Auch das eigentliche zweite Thema klingt weniger idyllisch als vielmehr heroisch, arbeitet mit großen Sprüngen und beruft sich kurz auf Helden der Tonkunst wie Bach und Brahms. Danach folgt eine stürmisch-gewagte Durchführung mit regelrecht bühnendramatischen Effekten: ein Beckenschlag markiert höchste Not. Als Retter erscheint das Hauptthema in einer aufgehellten Dur-Fassung, mit Parsifal-artigen Streicherfiguren und Choralklängen, und auch das dramatische Motto vom Anfang wird nach Dur verklärt. Hier setzt eine regelrechte Themenreprise ein, und in einer grandios-unbekümmerten Coda werden alle Elemente zur Apotheose geführt.
Welche Geschichte mag dies Stück erzählen, das da in nur sieben Minuten sämtliche Klischees des Dramatischen abarbeitet? Es könnte sich um Shakespeares Wintermärchen handeln. Denn wir finden ähnliche musikalische Momente in der gleichnamigen Ouvertüre von Suk: Sie beginnt zwar anders, denn König Leontes brütet in unbegründeter Eifersucht vor sich hin, die sich sanft, doch unnachgiebig in sein Gemüt schleicht (Streicher am Anfang, Klarinette, das Teufelsintervall Tritonus in den Bässen). Leontes steigert sich aber so in seine Eifersucht, dass er sein eigenes Kind mit Gattin Hermione zur Frucht eines Betrugs erklären und aussetzen läßt; das unbeirrbare Hauptthema erinnert in seinem Schwung ebenso an Holst wie manche Elemente zuvor (Oboe). Die Gattin flieht; man läßt den König im Glauben, sie sei gestorben. Die Tochter wächst unter dem Namen Perdita (Verlorene) als Tochter eines Hirten auf. Und diese Pastorale drückt sich musikalisch bei Suk in ähnlichen Holzbläserklängen aus wie bei Holst, wenn auch dieser Abschnitt wesentlich ausführlicher gearbeitet ist. Am Ende kommt es jedoch auf wundersame Weise zur Rückbesinnung von Leontes und zur Wiedervereinigung mit seiner Familie. Dazu paßt die Verwandlung am Ende der Durchführung ebenso wie die ähnlich disponierte große Coda – abgesehen davon, dass Suk sein Stück nicht in Bombast, sondern leiser Verklärung des Anfangs und des Perdita-Themas ausklingen läßt.
Spirituelle Winterreisen
Freilich ließen sich für Holsts inneres Programm ebenso andere Geschichten erfinden, wie sich recht mühelos Shakespeares Wintermärchen auf Bax oder Tschaikowsky münzen ließe – zumal Tschaikowsky gerade Shakespeare oft vertont hat. Seine Sinfonie ist jedenfalls unbestreitbar beredt und macht ausgiebigen Gebrauch von dramatischen Effekten. Man kann es sich freilich leichter machen und die Satztitel auf rein musikalische Momente beziehen, im Kopfsatz das Verträumte, das Winterliche und die Fortbewegung: all dies kommt schon im elegischen Hauptthema zur Geltung, mit seinen voraneilenden Streicherfiguren, der Weite der volksliedartigen Melodie und den elegischen. Immerhin eine Minute lang kommt diese Musik von ihrer Anfangsbewegung nicht los. Diese Mitteilsamkeit deutet auf ein elementares Bedürfnis des Komponisten. Was er mitteilt, hat ein leidenschaftliches „ich lasse dich nicht“, ist aber gleichermaßen düster, kämpferisch und tragisch – immerhin bemerkenswert konträr zu der offenen, einnehmenden Art, die Tschaikowsky seinerzeit gehabt haben soll. Überhaupt wirkt die Sinfonie wie eine charakterliche Selbstanalyse.
Bax war schlauer und stritt ein explizites Programm ab: „Der Hörer mag das Gehörte mit Heldensagen oder nordischen Mythen assoziieren, denn einige dieser Ereignisse mögen sich im Polarkreis abgespielt haben – Legenden, die einst erzählt wurden in vielen isländischen Hütten, am rauchenden Kaminfeuer, in uralten Zeiten, von wandernden Barden,“ schrieb er ins Programmheft der Uraufführung. Auch die Sätze haben keine programmatischen Überschriften. Dramatisch und ungemein beredt ist jedoch auch dieses Stück. Es beginnt gewagt mit soldatischen Trommeln im Rhythmus des späteren ersten Themas. Danach spielt das Klavier einen regelrechten Wirbelwind. Der Bax-Kenner Lewis Foreman hat nachgewiesen, dass dies der Grundstein für den gesamten Bau des Werkes ist. Man wird in das Geschehen hineingerissen wie von einem Sog – ähnlich wie ihn Tschaikowskys Finale-Einleitung entwickelt –, zugleich aber auch immer wieder wechselnden Stimmungen unterworfen. Mit Englischhorn und gedämpften Streichern erzielt Bax zum Beispiel gleich nach diesem Sog einen nebelhaften Charakter, ähnlich wie Tschaikowsky. Dem folgen ein heroisches Balladenthema und ein tänzerisches drittes, das zu Anfang das Dies irae zitiert. Der besseren Faßlichkeit wegen werden alle drei Themen sogleich variiert wiederholt und jeweils vom Anfangsmotto kommentiert.
All diese Elemente werden nun zunehmend verwirbelt wie in einem Schneesturm, folgen immer dichter aufeinander. Der langsame zweite Satz knüpft an die Stille-Momente des ersten an, während das Finale den Weg ins Leben findet. Es beginnt mit einem erstarrten Tubasolo und eiskalten Klavier- und Streicherklängen, bringt dann das Motto und weiteres vom ersten Satz und stellt ein bejahendes Finalthema vor. Die folgenden rituellen Tanzthemen gewinnen immer mehr Kraft – „die Wiederkehr von Sonne und Wärme nach der langen Polarnacht. Die Musik endet, wie sie begann, in einem Ausbruch des Lichts,“ beschrieb Bax diese Musik, bevor ein ausgedehnter Epilog (Tr. 4) das Werk visionär und gereift enden läßt.
Ihrem Wesen nach erzählen Legenden von einer spirituellen Erfahrung, die in Form eines verarbeitenden Prozesses gewonnen wurde, für den oft das Symbol der Reise (Tschaikowsky; man denke auch an Schubert!) gewählt wird. Der Winter entspricht dem symbolisch, denn er gebiert den Frühling (Suk, Holst, Bax). Im Grunde sind alle hier vorgestellten Stücke Winter-Legenden im allerbesten Sinn.
Dr. Benjamin G. Cohrs