Psalm und Sinfonie
Bernstein • Strawinsky • Boulanger • Reger
Psalmvertonungen gibt es in allen erdenklichen Formen und Besetzungen. Da die Texte nicht den strengen Regeln der Liturgie unterworfen sind, haben sie eine besondere Anziehungskraft für Komponisten. Außerdem bieten die Psalmen eine Fülle passender geistlicher Texte zu allen möglichen Anlässen. Man kann überdies Verse herausnehmen, sie auf reizvolle Weise neu zusammenstellen, überhaupt sehr frei damit verfahren und sie so in den Dienst einer gewollten Aussage stellen.
- Bernstein: Chichester Psalms
- Strawinsky: Psalmensinfonie
- Boulanger: Psalmen u.a.
- Reger: Der 100. Psalm
Psalm und Sinfonie
Psalmvertonungen entstehen im wesentlichen aus zwei Gründen: Entweder handelt es sich um repräsentative Auftragswerke, oder sie bringen persönliche Gefühle ihrer Komponisten auf besondere Weise zum Ausdruck. Erst im 20. Jahrhundert begegnen uns öfter auch regelrecht sinfonische Psalmen, am bekanntesten ist vielleicht die Psalmen-Sinfonie von Igor Strawinsky. Diesen Titel nimmt »KLASSIK heute« zum Anlaß, sich nach Artverwandten umzusehen.
Max Reger (1873–1916)
Seltsam, dass jemand, der sich ausdrücklich als Kontrapunktiker in der Tradition Bachs verstand und sehr wohl um die Entwicklungsfähigkeit seines Tonmaterials wußte, mit der Sinfonie an sich Probleme hatte: Regers Jugendsinfonie (1890) wurde nie fertig; auch eine Orgelsinfonie hat er nie geschrieben. Immerhin kamen einige „verkappte Sinfonien“ zustande – die Sinfonietta op. 90, die Romantische Suite, die Böcklin-Suite und anderes. Die großartigste davon ist ohne Zweifel der Psalm 100 – ein halbstündiges Werk von monumentalen Ausmaßen, in der Orchesterbehandlung so kompliziert, dass es bis heute stillschweigend in der Einrichtung von Hindemith musiziert wird. Der erste Teil entstand bereits 1908 als Dankpsalm für die 350-Jahr-Feier der Universität Jena und wurde am 31. Juli 1908 in der Jenaer Stadtkirche uraufgeführt. Ein Jahr später waren die übrigen Sätze fertig; Reger selbst dirigierte die komplette Erstaufführung am 23. Februar 1910 in der Lukaskirche zu Chemnitz.
Lili Boulanger (1893–1918)
Die jüngere Schwester von Nadia Boulanger litt lebenslang an einer Immunschwäche und starb im März 1918 im Alter von gerade 25 Jahren. Ein Zyklus von fünf meisterlichen Gesängen mit Orchester wurde ihr erschütterndes musikalisches Vermächtnis. Bereits um 1911 notierte sie in ein Skizzenbuch die Grundidee: „Totengeläut mit Dies Irae; Glockengeläut zur Taufe; Ernster Gesang; Gesang des persönlichen Gefühls; Gesang des Friedens, über allem schwebend.“ Dementsprechend folgten bei paralleler Skizzenarbeit die Kantate Pour les funérailles d’un soldat (1912/13), die Psalmen 24 und 129 (1916), das Vieille Prière Bouddhique und der Psalm 130 De Profundis (1917). Die Komponistin konnte mit Ausnahme der Eingangskantate alle diese Werke nicht mehr selbst hören. Sie wurden erst 1921 und 1923 von Henri Busser im Paris uraufgeführt und sind im Konzert bis heute noch nie im zyklischen Gesamtzusammenhang erklungen.
Igor Strawinsky (1882–1971)
Auch Strawinskys Psalmensinfonie ist ein Auftragswerk. „Diese Sinfonie wurde zur Ehre Gottes komponiert und dem Boston Symphony Orchestra anläßlich des 50. Jahrestages seiner Existenz gewidmet“, ist die Partitur überschrieben. Und dort wurde sie 1930 im Rahmen der Feiern selbstverständlich auch von ihrem Auftraggeber uraufgeführt, dem damaligen Chefdirigenten Serge Koussevitzky. 1948 hat Strawinsky die Sinfonie noch einmal überarbeitet. Das dreisätzige, zwanzigminütige Stück ist für eine reizvolle Besetzung geschrieben – hohe Melodieinstrumente wie Klarinetten, Geigen und Bratschen fehlen ganz. Das üppig besetzte Restorchester klingt dadurch wie eine große Orgel. Die Sinfonie vereint heidnische Klänge wie aus Le sacre de printemps mit Elementen russisch-orthodoxer Liturgie. Die Psalmen bleiben Sache der Sänger, während für den Komponisten das Sinfonische im Vordergrund steht – eine eigenartige Dichotomie, die den besonderen Reiz des Werks ausmacht, andererseits die Frage: Kirche oder Konzertsaal? besonders eindringlich stellt.
Leonard Bernstein (1918–1990)
„Diese Psalmen sind einfach – bescheidene Lieder, tonal und melodisch, beinahe bieder, für aufrechte John Cager garantierte Tortur, mit Tonika und Dreiklang in simplem Es-Dur“ dichtete der Komponist selbstironisch. Eigentlich hatte er in seinem Urlaubsjahr vorgehabt, die serielle Musik zu erforschen. Die Psalmen waren ein Kompositionsauftrag vom Dekan der Kathedrale in Chichester und entstanden im Frühjahr 1965 in Manhattan. Nach einer Voraufführung in einer Fassung mit gemischten Chor im Sommer 1965 in New York dirigierte Bernstein die eigentliche Uraufführung im August in Chichester – diesmal in der von ihm bevorzugten, heute selten gespielten Version für Knaben- und Männerchor. Der Bischof von Chichester gestand, er habe förmlich „David vor der Bundeslade tanzen sehen.“
Qualität und Gehalt der Psalmen
Reger wählte für sein Feststück den vollständigen Lobgesang „Jauchzet dem Herrn alle Welt“. Die ersten beiden Verse faßte er zu einem Eingangschor zusammen, die übrigen drei bilden jeweils einen weiteren Abschnitt – eine vierteilige Sinfonie-Form aus Allegro, Andante, Scherzo und Finale, die durch ihre Prägnanz besticht.
Lili Boulanger ordnete ihre fünf ausgewählten Texte der oben geschilderten Skizze unter. Der Eingangsteil verbindet einen weltlichen Text von Alfred de Musset mit dem Dies Irae; der vierte Teil ist ein Fürbittengebet, das alle buddhistischen Novizen vor ihrer Erst-Ordination zu lernen haben. Dazwischen stehen Psalm 24, ein Glaubensbekenntnis zur Taufe („Die Erde ist des Herrn“), und Psalm 129, ein Bekenntnis zur Selbstbestimmung des Einzelnen („Sie haben mich sehr unterdrückt seit meiner Jugend, doch sie haben mich nicht gebrochen“). Am Ende steht der erschütternde Psalm 130 „Aus tiefstem Abgrund rufe ich zu Dir, Jahwe, Adonai“, hebt also den hebräischen Aspekt hervor. Besonders wichtig war Boulanger der Gedanke der Über-Konfessionalität; alle Texte sind in voller Länge komponiert.
Bernstein vertonte drei Psalmen komplett (Psalm 100, Psalm 23 Der Herr ist mein Hirte und Psalm 131 Herr, mein Herz ist nicht hoffärtig), gab ihnen aber zusätzlich noch kommentierende Verse aus weiteren Psalmen bei.
Strawinsky wählte für die ersten beiden Sätze je zwei Psalm-Ausschnitte, die sich sinnfällig ergänzen (aus Psalm 38 Herr, höre mein Gebet und vernimm mein Schreien, und als Antwort aus Psalm 39 Ich harrte des Herrn, und er neigte sich zu mir und hörte mein Schreien), sowie als feierliches Finale den gesamten Psalm 150 Halleluja! Lobet Gott in seinem Heiligtum. Beim Hören stellt sich der Eindruck ein, dass die Psalmen von Reger und Strawinsky aufgrund der Kürze der Texte am leichtesten faßbar sind und dadurch den Blick auf die Musik schärfen. Die überkonfessionellen Werke von Boulanger und Bernstein vertonen wesentlich mehr Text und wirken unübersichtlicher; andererseits erforderte dies eine besondere Intensivierung des musikalischen Ausdrucks, der bei Boulanger erschütterte Betroffenheit, bei Bernstein ketzerische Freude auslöst – besonders angesichts der von den Bestellern ausdrücklich gewünschten West Side Story-Anklänge bis hin zu lateinamerikanischer Tanz-Ekstase (Bongos in der Kathedrale!) –, bevor sein Werk leise verklingt.
Form im Dienst des Textes
Alle vier Werke erfüllen die hier ausgewählten Voraussetzungen: sonatenartige motivische Zusammenhänge und eine mehrsätzige Form mit einer Disposition auf das Finale hin. Strawinskys und Bernsteins zwanzigminütige Stücke ähneln sich im Aufbau. Die ersten beiden Sätze sind zusammen so lang wie der letzte; je ein Satz ist ein Lobpsalm; die beiden anderen korrespondieren miteinander. Hat sich Bernstein von Strawinsky inspirieren lassen? Im Finale finden wir bei beiden eine klagende, langsame Einleitung, bei Bernstein rein instrumental, bei Strawinsky mit Chor. Strawinsky komponierte dabei gegen den Text, denn nach einem „Lobet den Herrn“ klingt das gar nicht. Bernstein löste diese Spannung in einem seeligen Hymnus im Fünfachteltakt, der in breiter Steigerung zum Schluß geführt ist – ganz wie ein langsames Finale seines alter ego Gustav Mahler. Eindrucksvoll und wahrhaft sinfonisch ist jener Moment, wo in der Coda das Motto vom Beginn des ersten Psalms verklärt wiederholt wird und den Kreis schließt. Strawinsky findet auch zur Verklärung, allerdings nicht zum Hymnus. Pauken schlagen glockenartig – Bernstein scheint dies im ersten Psalm aufzunehmen –, flüstern minutenlang vom Mysterium, und wenn der Chor sein Alleluia singt, wird man sehr an den eben geschilderten Moment bei Bernstein erinnert. Strawinsky schafft mit diesem ruhigen Ostinato aber auch eine subtile Klammer zum ersten Satz, dessen Coda rhythmisch ähnlich gebaut ist.
Noch deutlicher schlägt Reger im Finale den Bogen zurück: Schon die Einleitung verwendet die Begleitfigur des Anfangs und die gleiche harmonische Spannung im Baß; damit ist die Anknüpfung wörtlich komponiert. Reger baut im Finale eine gewaltige Fuge, in deren Schlußsteigerung diese Einleitung erneut auftaucht, und wenn das Ganze dann mit dem Blechbläserchoral Ein feste Burg ist unser Gott noch überhöht wird, klingt das so sinfonisch wie in Bruckners Fünfter oder seinem Te Deum. Was bei Reger den sinfonischen Eindruck weiter verstärkt, ist das Kontrastgefüge der Innensätze. Der langsame zweite Satz „Erkennet, dass der Herr Gott ist“, versenkt sich tief in die Mystik. Reger läßt die Toteninsel aus seiner Böcklin-Suite anklingen und zitiert auch andere seiner Werke. Der dritte Satz, „Gehet zu seinen Toren ein“, ist ein tänzerisches Grazioso, das an die Intermezzi der Sinfonien von Brahms erinnert.
Hört man den Zyklus von Lili Boulanger in chronologischer Reihenfolge, dann erkennt man eine fünfteilige Form, die ebenfalls an Mahler erinnert (vgl. die Sinfonien Nr. 1 Urfassung, Nr. 5 und Nr. 10). Ihre Ecksätze sind apokalyptische Schreckensvisionen in der Kirchentonart B-Phrygisch, verklammert durch das Zitat des Dies Irae, das in den Funérailles ganz unverhohlen auftaucht (Bläser; Streicher). Im Finale findet es sich im Eingangsthema wieder. Nur leicht modifiziert ist das Dies Irae auch in den Hauptthemen der Innensätze zu finden – im Motto des 24. Psalms und umgestellt im Thema des 129. Psalms. Eine weitere Klammer bildet das glockenartige Hin- und Herpendeln, das den Anfang des 24. Psalms bildet und wie eine Gebetsformel im vierten Teil, Prière Bouddhique, wieder auftaucht. Mit diesem monotonen Pendeln zwischen zwei Tönen beginnt auch der Schlußsatz, der für sich genauso lang wie die vorausgehenden vier Teile zusammen ist und allein schon dadurch Final-Gewicht bekommt. Für mich ist ihr Zyklus neben Reger die sinfonischste aller hier vorgestellten Psalm-Vertonungen und ein würdiges Monument für die großartige, viel zu früh verstorbene Komponistin.
Dr. Benjamin G. Cohrs