Charles Koechlin
SWRmusic 93.106
1 CD • 64min • 2003
07.05.2004
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Charles Koechlin ist ein typisches und lehrrreiches Beispiel dafür, was man sich unter dem Begriff der „künstlerischen Entwicklung” wirklich vorzustellen hat: eine allmähliche, zumeist nicht unbedingt geradlinige Entpuppung, die schrittweise Offenlegung dessen, was man ist und was man just aus diesem Grunde immer hatte werden wollen.
Koechlin half bei der Erreichung seiner innersten Absichten ein langes Leben, in dessen Verlauf er nicht als Komponist, sondern auch als Autor und Lehrer gefragt und geschätzt war: Abhandlungen über Harmonik, Kontrapunkt, Fuge und Orchestration; Schüler wie Francis Poulenc, Germaine Tailleferre und Henri Sauguet; und ein Œuvre von sage und schreibe 225 numerierten Werken verraten, daß der Sproß der elsässischen Industriellenfamilien Dollfus & Köchlin mit seiner Zeit beneidenswert ökonomisch umging. Bei näherer Inspektion stellt sich dann heraus, daß Koechlin am Ende sein großes Ziel erreichte und tatsächlich jener Astronom wurde, der sich von Anfang an in ihm verborgen hatte – kein bloßer „Sterngucker”, sondern ein Charakter, für den das Firmament mehr als eine Ansammlung roter Riesen und weißer Zwerge war und den man nur deswegen nicht „faustisch” nennen darf, weil er sich auf seinem Weg sehr wahrscheinlich nicht dem Satan verschrieben hatte.
Während Koechlin mit der Sinfonie The Seven Stars seiner zweiten großen Leidenschaft frönte und einigen der frühen Tonfilmberühmtheiten einen „Walk of Fame” schrieb, handeln die beiden hier vorliegenden Werke vom echten Firmament und seinen Einfluß auf die Betrachtungen der menschlichen Seele. Vers la Voûte étoilée (Anblick des Sternenhimmels) beschreibt nach den Worten des Komponisten „eine Reise in sehr ferne Bereiche, weit von der Erde, aber nicht fern menschlicher Empfindungen”, mithin eine langwierige Fahrt in jene Regionen, wo sich Unendlichkeit und Ich begegnen. Das Ergebnis ist eine Musik, die wie von selbst zu einer romantischen Sprache zurückfindet, die Koechlin in den zwanziger und dreißiger Jahren angeblich längst hinter sich gelassen hatte: Unterm gestirnten Himmel erlebt man Ewigkeiten anstelle scheibchenweise verabreichter Historie ...
Wenn dieses Nocturne, an dem Koechlin insgesamt gut anderthalb Jahrzehnte (1923-39) gearbeitet hat, schlicht und einfach eine wunderschöne Komposition wurde, so umgibt Le Docteur Fabricius (1941-1944) jene zeitlose Mittelalterlichkeit, wie sie uns beispielsweise in Hermann Hesses Glasperlenspiel entgegentritt. Koechlin schuf hier gewissermaßen den inneren Soundtrack zu einer Novelle seines Onkels, des Philosophen Charles Dollfus (1827-1913), in der es wieder um eine Reise geht. Der Autor will den Philosophen Fabricius besuchen, der sich aufgrund des schreienden Unrechts dieser Welt in die Einsamkeit zurückgezogen hat. Er findet ihn, erlebt während der Nacht die friedliche Herrlichkeit und Harmonie des Sternenhimmels, erwacht und stellt fest, daß er den ganzen Besuch nur im Zimmer seiner Herberge geträumt hat.
Koechlin hat diese Erzählung in eine siebensätzige symphonische Komposition gegossen, die mit ihren kantigen Chorälen und schroffen Klängen zeitweilig wie eine Vision der Turangalîla-Sinfonie erscheint. Das sind Töne, wie sie der magister ludi Josef Knecht hätte hören können, als er zum erstenmal nach Kastalien kam; so muß es in Ferruccio Busonis Arbeitszimmer getönt haben, während er für seinen Faust die Studenten aus Krakau aufs Papier brachte: Aus tiefer Noth schrei ich zu Dir dröhnt es jäh im ganzen Orchester, dann öffnet sich der sternenbesäte Himmel mit einem himmlischen Ondes Martenot-Solo, das einem durch seine abgeklärte Schönheit schlagartig sämtliche Idiotien dieses kleinen Planeten vor Augen führt.
Le Docteur Fabricius ist fürwahr ein Wunder, eines der schönsten Werke, die ich bislang von Charles Koechlin gehört habe. Dazu trägt ohne Zweifel die hinreißende Interpretation dieser Ersteinspielung bei, die von innen heraus leuchtet und allen Beteiligten die besten Noten ausstellt: So möchte ich mal Le Livre de la Jungle oder Les Heures Persanes hören – nicht als meditativen Zeitvertreib, sondern bestrahlt von dem Licht, daß hinter den hellen Punkten am nächtlichen Firmament glüht.
Rasmus van Rijn [07.05.2004]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Charles Koechlin | ||
1 | Vers la Voûte étoilée op. 129 (Nocturne) | 00:12:31 |
2 | Le Docteur Fabricius op. 202 (Sinfonische Dichtung nach der Novelle von Charles Dollfus, 1941/1944) | 00:51:09 |
Interpreten der Einspielung
- Christine Simonin (Ondes Martenot)
- Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR (Orchester)
- Heinz Holliger (Dirigent)