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Besprechung CD

Carus 83.167

1 CD • 12h 10min • 2004

27.01.2005

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 8
Klangqualität:
Klangqualität: 9
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 9

Felix Mendelssohn Bartholdys sechs Orgelsonaten stellen in der Orgelmusikgeschichte einen ziemlich einzigartigen Formtyp vor, der aus seiner Entstehungsgeschichte, nicht weniger aber auch aus der Reserviertheit des kundigen Musikers und Musikhistorikers Felix Mendelssohn gegenüber der Möglichkeit hervorwuchs, die klassische Klaviersonate auf die Orgel zu übertragen. Um den Wunsch seines englischen Verlegers zu befriedigen, stellte er daher –letztlich ganz Historiker – 24 Einzelsätze zu sechs „Sonaten“ zusammen, deren Terminus wieder – und bewusst – der Musikgeschichte entlehnt war, denn Mendelssohn sah dahinter die „Sonata“ als „Klingstück“ auf der Orgel, nicht die (Klavier-)„Sonate“ zwischen C.Ph.E. Bach und L. v. Beethoven.

Den heutigen, um eine angemessene Wiedergabe der sechs Orgelsonaten Mendelssohns bemühten Musiker stellt dies vor so bekannte wie unerfreuliche Probleme bei der Instrumentenauswahl. Mendelssohn äußert sich zwar mehrfach zu Orgeln, die er – zwischen Sommerfrische in Bulle, Schweiz (Mooser 1814) und erklärtem Studium der Werke J. S. Bachs auf G. Silbermanns Orgeln in Rötha (1721/22) – gerne spielte. Dennoch hat man Probleme, über diese Instrumente Hinweise für die Wiedergabe seiner Orgelwerke zu entdecken, die Mendelssohn selbst als Kuriosum (Bulle) oder historisches Dokument (beide Instrumente in Rötha) empfand. Die neuzeitliche, fast landplagenartige Mode im Orgelbau, Instrumente im Stile des zweifellos faszinierenden Orgelbaueringenieurs Aristide Cavaillé-Coll zu erstellen, veranlasst namentlich eine junge Organistengeneration, Mendelssohn auf diesen Instrumententyp zu verlegen, der Mendelssohn – wenn auch mit Cavaillé-Coll gleich alt – nur avantgardistisch erscheinen konnte, selbst wenn die berühmte Orgelbautheorie von Töpfer und Allihn (Weimar 1833, zuletzt 1888) einen beachtlichen Teil ihrer Neuerungen aus Cavaillé-Colls Entwicklungen schöpft.

Kay Johannsen, international reputierter Organist und Kantor der Stuttgarter Stiftskirche, kennt diese Untiefen und sucht sie durch die Wahl eines Instrumentes zu entschärfen, das durch die Mischung einer (süd-)deutsch-klassisch angehauchten Klangsprache mit derjenigen Cavaillé-Colls ein recht eigenes Kolorit enfaltet. Orgelbau Rensch, Lauffen, baute 1995 in den streng neoromanischen Raum von St. Adalbero in Würzburg-Sanderau (1894-1899) ein repräsentatives Instrument (III/52), das Johannsen für Mendelssohn klanglich glänzend zu nutzen weiß. Auch die Aufnahmetechnik macht hier vorteilhaft auf sich aufmerksam, da sie das Instrument in seinem Raum unverfärbt und mit schöner Räumlichkeit einfängt. Schnitt und Aufnahmeleitung des Tonmeisters Wolfgang Mittermaier verdienen dabei nicht weniger positive Erwähnung. Dazu sei angemerkt, das es Mittermaier war, der im Jahre 2000 für eine Aufnahme den Goldenen Bobby des Verbandes Deutscher Tonmeister erhielt, den das Booklet der Mendelssohn-Aufnahme aber Johannsen zuspricht...

Wenn andererseits zwei Musiker so zusammenarbeiten wie im vorliegenden Falle, jeweils wissen, was sie tun, gebührt ein solcher Preis vielleicht doch beiden, selbst wenn er eigentlich dem Tonmeister galt. In die Zusammenarbeit beider greift seinerseits Hans Musch, Freiburg, ein, der als pädagogischer Mentor einer ganzen Organistengeneration einen reizvoll kompetenten Booklet-Text besteuerte, der instruktive Seitenblicke auf andere Genres der romantischen Musikliteratur nicht scheut.

Ein kleines Problem bereitet der neoromanische Raum von St. Adalbero, der zum einen der Technik Mittermaiers eine Anspielung an eine meinem Verständnis der Sätze Mendelssohns fremde Spektakularität verleiht, der auch Johannsen gelegentlich durch überaus straffe, virtuose Tempi erliegt. Sollte dies von Johannsen und Mittermaier beabsichtigt gewesen sein, hätten sie ein weiteres Ziel erreicht, das mir allerdings ferner liegt; ich kann von eignenen Erfahrungen mit Werken Mendelssohns an Orgeln G. Silbermanns und solchen der Familie Stumm aus Rhaunen-Sulzbach nicht soweit absehen, daß ich die von Johannsen gewählten Tempi beispielsweise im vierten Satz der ersten Sonate ohne Diskussion hinnähme. Manchmal – Fugensatz der zweiten Sonate –, wenn Johannsen nach der Peters-Ausgabe phrasiert, wünscht man sich die von Mendelssohn autorisierte Alternative, von der man als Hörer glaubt – jedoch keineswegs weiß –, sie passe besser nach St. Adalbero. Mendelssohn selbst hat ja derlei Probleme, besser aber wohl Diskussionsanlässe mit seinem Werk in unsere Welt getragen, indem er Artikulations- und Phrasierungsangaben der vier exakt gleichzeitig am 15. September 1845 in London (Coventry & Hollier), Paris (Schlesinger), Mailand (Ricordi) und Leipzig erscheinenden Ausgaben seiner Sonaten keineswegs identisch anlegen ließ.

Der gewählte Würzburger Kirchenraum erwartet gelegentlich mehr Platz, mehr Zeit, als ihm die zupackende Leidenschaft Johannsens einräumt, die bis in die Kantionalsätze hinein kurzweilige Spannung verbreitet. Wenn Musiker und Tonmeister sich in unserer schnelllebigen Zeit Muße für Diskussionen über Raum, Instrument, Technik und Interpretation ließen, lassen könnten, der medialen Abstraktion – die Wirklichkeit ersetzt eine Aufnahme nie – diente dies.

Thomas Melidor [27.01.2005]

Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Felix Mendelssohn Bartholdy
1Orgelsonate f minor op. 65 No. 1
2Orgelsonate c-Moll op. 65 Nr. 2
3Orgelsonate A-Dur op. 65 Nr. 3 (über den Choral "Aus tiefer Not schrei ich zu dir")
4Orgelsonate B-Dur op. 65 Nr. 4
5Orgelsonate über den Choral "Vater unser im Himmelreich" d minor op. 65 No. 6
6Orgelsonate d-Moll op. 65 Nr. 6

Interpreten der Einspielung

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