EMI 5 57888 2
1 CD • 59min • 2004
31.01.2005
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Beim Anhören dieses Mitschnitts der Silvester-Konzerte der Berliner Philharmoniker vom Dezember 2004 rutschte ich bald unruhig auf dem Stuhl hin und her. Sir Simon feuert sein Orchester auf eine Weise an, als ob der Leibhaftige ihm den ganzen Abend dicht auf den Fersen sei! Manchmal hat er ihn fast erwischt: Schon als Rattle im Eröffnungsteil O Fortuna imperatrix mundi mehrmals die Nachbrenner zündete, habe ich mich zurückgewünscht in die meiner Ansicht nach immer noch unübertroffene Aufnahme unter Eugen Jochum von 1968 (DGG 427 879 2). Die Unentrinnbarkeit des sich immer weiter drehenden Schicksalsrades läßt sich mit solchen Hetzjagden nicht darstellen – es sei denn, das Schicksal habe sich inzwischen auch an die Rastlosigkeit unserer Zeit angepasst. Das ist nicht mehr temperamentvoll, das ist Fortuna auf Speed.
Von Simon Halsey tadellos vorbereitet und bestens aufgelegt war der Rundfunkchor Berlin, doch die extremen Tempi Rattles gingen deutlich zu Lasten der Durchhörbarkeit, insbesondere in den dicht instrumentierten Passagen, wo der Chor zusätzlich vom Orchester massiv eingedeckt wird. Lawrence Brownlee sang den berühmten Schwan in der Pfanne (Tr. 12) nicht im Falsett, da er über eine unglaubliche Höhe verfügt, aber leider auch mit sehr engem, manieriertem Vibrato. Das troff zwar wie das Fett von dem Schwan, doch die von Orff beabsichtigte groteske Wirkung bleibt aus – man vergleiche mit der eigenwilligen, aber so unübertrefflich charakteristischen Darbietung von Gerhard Stolze in der Jochum-Einspielung! Über eine ähnliche Farbe wie Brownlee verfügt die Sopranistin Sally Matthews – doch leider eben nur über eine Farbe in ihrem berühmten Dulcissime (Tr. 23), das ebenfalls von engem Vibrato nur so strotzte. Auch hier hatte Jochum seinerzeit mit der Wahl seiner Solistin eine glücklichere Hand. Um wieviel anrührender sang doch Gundula Janowitz diese Stelle – auch wenn ihre Spitzentöne keineswegs so mühelos und leicht kamen wie die von Sally Matthews. Doch das alles ist eben nicht entscheidend. Einsamer Höhepunkt der Produktion ist für mich der Auftritt von Christian Gerhaher – allein schon deshalb, weil hier endlich einmal ein Top-Bariton nicht so wirkt, als wolle er um jeden Preis Dietrich Fischer-Dieskau (auch in der Jochum-Einspielung) imitieren. Gerhaher gibt den besoffenen Priester so überdreht und charakteristisch, daß man sich schon fast in Bergs Wozzeck wähnt – die einzige Stelle, an der ich beim Abhören lachen mußte. Doch daß Simon Rattle es mit seinen Tempo-Vorgaben sogar schaffte, Christian Gerhaher beinahe im Regen stehen zu lassen (Anfang von Tr. 11) und einem solchen Sänger derart die nötige Entfaltung seiner Töne im Raum zu nehmen, ist fast schon ein Skandal. Und warum verzichtet das Beiheft auf jegliche Zeit-Angabe? Man kann ja durchaus kontrovers diskutieren, ob es nötig ist, bei 25 Tracks jede kurze Sequenz in Minuten und Sekunden mitzuteilen, doch nicht einmal die der sieben großen Abschnitte, geschweige denn die Gesamtdauer anzugeben, ist merkwürdig. Wem eine effektheischende Aufführung der Carmina Burana mit einem wunderbaren Bariton und einem vorzüglichem Chor reicht, der wird hier bedient. Wer aber etwas von den Facetten und der Essenz des Werkes hören möchte, der sollte unbedingt zu der immer noch erhältlichen Jochum-Einspielung greifen.
Dr. Benjamin G. Cohrs [31.01.2005]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Carl Orff | ||
1 | Carmina Burana (Lieder aus Benediktbeuren. Weltliche Gesänge für Soli, Chor und Orchester) |
Interpreten der Einspielung
- Sally Matthews (Sopran)
- Lawrence Brownlee (Tenor)
- Christian Gerhaher (Bariton)
- Rundfunkchor Berlin (Chor)
- Berliner Philharmoniker (Orchester)
- Sir Simon Rattle (Dirigent)