O gente brunette
Ramée RAM 0902
1 CD • 65min • 2008
19.01.2010
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Die letzten Jahre haben in kaum einem Teilbereich der Aufführungspraxis so sensationelle Fortschritte gebracht wie in der Interpretation der Musik des Mittelalters und der Renaissance. Da, wo man sich früher vorsichtig, ja oft ängstlich, der alten und fremd gewordenen Musik näherte, und die Deutungsbemühungen sich oftmals in bloßem Streben nach vokaler Intonationsreinheit erschöpften, hat sich mittlerweile eine Vertrautheit mit den alten Texten und Stilen etabliert, welche nicht lähmend, sondern geradezu befruchtend wirkt. Entweder man fügt den Stimmen beherzt Instrumente hinzu, oder erschafft eine begeisternde Farbvielfalten durch die Möglichkeiten der Stimmen allein.
Diese zweite, virtuosere Methode beherrscht das italienische Ensemble Odhecaton auf begeisternde Art und Weise. Auf ihrem neuen Album „O gente brunette“ entwerfen sie ein aufregend weites Panorama unterschiedlichster Musikstile von Komponisten aus der französischen Picardie; dass es sich hierbei, wie im Untertitel vermerkt, um Sänger-Komponisten handelt, ist nicht besonders aussagekräftig, da im 15. und 16. Jahrhundert die meisten Komponisten ihre Karrieren auf dem Fundament einer Gesangsausbildung aufbauten und die Musik der Renaissance ganz generell am fließenden Gesangsideal angelehnt ist. Die bekanntesten picardischen Komponisten sind heute Jean Mouton und besonders Loyset Compère, im Mittelpunkt dieses Programms jedoch steht die herausragende Missa „O gente brunette“ von Nicolas de Marles auf die gleichnamige weltliche Chanson, deren Melodie ein wenig an Isaacs „Innsbruck, ich muß dich lassen“ erinnert; erschienen war die Chanson 1548, zwanzig Jahre vor der Komposition der Messe, und David Fiala, der den informativen Einführungstext verfaßte, macht zu Recht darauf aufmerksam, dass der frivole Inhalt der Chanson den zeitgenössischen Hörern noch präsent gewesen sein dürfte – ein Indiz für die Lebensweltlichkeit auch des damaligen geistlichen Komponierens.
Es ist vielleicht gerade jene geradezu leidenschaftliche Weltzugewandtheit, aus der das runde Dutzend Sänger von Odhecaton um seinen Leiter Paolo da Col die Energie für eine derart inspirierte Darstellung zieht. Kein Moment der etwa 20 Minuten, welche der Meßzyklus Nicolas de Marles dauert, vergeht ohne Spannung, die Musik ist vollkommen unaufdringlich mit Affekten aufgeladen, ob diese nun von untergründiger, feierlicher, gleichsam nüchterner Verzückung sind wie die Rahmenteile Kyrie und Agnus Dei oder von offener Energiegeladenheit wie etwa das Hosanna des Sanctus, das in hohem Tempo geradezu als Virtuosenstück vorgestellt wird. Gerade in der Tempowahl orientiert sich Paolo da Col am modernen Spektrum, was Sinn ergibt – warum soll gerade die so bewußte Renaissance nur in langsamer Geschwindigkeit musiziert haben?
Ähnlich energetisch wird auch das strukturale Moment der Kompositionen herausgearbeitet, die zugrundeliegenden Melodien etwa werden subtil, aber wirkungsvoll hervorgehoben, so dass man gut verfolgen kann, mit welcher Finesse diese Musik gemacht ist. Dies gilt auch und gerade für die Motetten Mathieu Sohiers und Comères, deren melodisches Material, etwa das Ave Regina caelorum auch für heutige Ohren überraschend eingängig klingt. Kaum vorstellbar, dass diese Musik facettenreicher und faszinierender gesungen werden kann.
Prof. Michael B. Weiß [19.01.2010]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Mathieu Sahier | ||
1 | Salve Regina (a 4) | 00:08:24 |
2 | Ave Regina caelorum (a 4) | 00:04:00 |
Thomas Champion | ||
3 | O gente brunette (a 4) | 00:01:37 |
Nicolas de Marle | ||
4 | Missa O gente brunette (a 4) | 00:19:47 |
Antoine Bruhier | ||
9 | Ecce panis angelorum (a 4) | 00:04:02 |
Jean Mouton | ||
10 | Nesciens mater virgo virgorum (a 8) | 00:04:01 |
Loyset Compère | ||
11 | Omnium bonorum plena (a 4) | 00:10:46 |
12 | Virgo caelesti (a 5) | 00:02:07 |
13 | O genitrix gloriosa (a 4) | 00:03:39 |
Jean Mouton | ||
14 | Ave Maria ... Virgo serena (a 5) | 00:06:34 |
Interpreten der Einspielung
- Odhecaton (Ensemble)
- Paolo Da Col (Dirigent)