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Besprechung CD

Thorofon CTH2595

1 CD • 70min • 2012

24.07.2013

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 9
Klangqualität:
Klangqualität: 9
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 10

Das Ensemble Zeitsprung, hier durchgängig einzig vom Klarinettisten Oliver Klenk repräsentiert, stellt Werke von zwei der bedeutendsten russischen Komponisten der Generation nach Schostakowitsch vor: Boris Tishchenko (1939-2010) und Rodion Schtschedrin (geb. 1932). Während Schtschedrin, in München lebend und von den großen Orchestern, Dirigenten und Solisten des Westens mit Aufträgen überhäuft, längst eine immense internationale Reputation genießt, sind die Petersburger Komponisten, die dort blieben, bei uns bis heute nicht so bekannt, nicht einmal die bedeutendsten unter ihnen wie Sergey Slonimsky oder eben Boris Tishchenko, die zwei eminentesten russischen Sinfoniker seit Schostakowitschs Tod.

Schtschedrin ist stets ein Chamäleon gewesen, ein unerhört wandelbarer Tonschöpfer von höchster handwerklicher Klasse, zu Hause in jedem Genre, und oft von Werk zu Werk kaum wiederzuerkennen – zumindest muss man mehrere Stränge seines Schaffens zur Kenntnis genommen haben, um deren Gemeinsamkeiten aufzuspüren. Das pastorale Trio Drei Hirten für Flöte, Oboe und Klarinette entstand 1988 und liegt hiermit als von Tobias Kaiser, Claire Sirjacobs und Oliver Klenk exzellent vorgetragene Ersteinspielung vor. Es beruht auf ländlichen Kindheitserinnerungen des Komponisten und wirkt zugleich ein wenig so, als wäre der langsame Satz von Berlioz' Symphonie fantastique in zeitgenössischer Manier weitergesponnen. Die Form ergibt sich auf improvisatorisch alternierende Weise, voll melismatisch musikantischen Wechselspiels, und gestaltet sich bei aller atmosphärischen Kontinuität und Beschränkung auf drei Grundtimbres erstaunlich abwechslungsreich.

Schtschedrin weiß ganz genau, was er von den drei Solisten verlangen kann und wie er sie wohlklingend, ausgleichend und trennscharf zu setzen hat. So vermag er auch, die Flöte, die naturgemäß in dieser Kombination eher ausgestochen wird, höchst vorteilhaft zur Geltung zu bringen, und der Oboe jene Grade an Intimität abzuverlangen, zu denen sie imstande ist. Was ich allerdings höchst bedauerlich finde – und noch nie aufnahmetechnisch erfüllt vorgefunden habe –, ist, dass die Kombinationstöne, die sich beim Zusammenspiel in hoher Lage gerade bei Holzbläsern so deutlich ergeben, beim zweistimmigen Spiel als dritte und beim dreistimmigen Spiel als vierte Stimme in tiefer Lage, nicht zu hören sind. Das ist ein veritabler Verlust, denn diese nicht auf dem Papier komponierten Töne gehören im Resultat ebenso zur Musik und verleihen ihr einen unwiderstehlichen Reiz! Jedoch wird das Stück, bis auf den recht ziellos wirkenden Note-gegen-Note gesetzten, choralartigen Abschnitt homophoner Dreistimmigkeit, hinreißend dargeboten.

Schtschedrins Fresken des Dionysios von 1981, inspiriert von einem Ikonenmaler des frühen 16. Jahrhunderts, gleichen eher Glasperlenspielen – es ist eine Art abstrakter Intervall-Kombinatorik für ein Nonett aus Bläserquintett, Viola (Kelvin Hawthorne, Solobratschist des Münchener Kammerorchesters), Cello, Celesta und Crotales. Sollte die Musik über eine innewohnende Dynamik verfügen, die über den rituell verzahnten Charakter hinausgeht, so erschließt sich das in dieser rein technisch tadellosen Aufführung nicht. Klangfarblich ist das Ganze umso interessanter.

Boris Tishchenkos Konzert für Klarinette und Klaviertrio op. 109 (1990) ist ein absolutes Meisterwerk von großsinfonischem Aufbau, ein würdiger Vertreter großdimensioniert organisierter Kammermusik in der Fortschreibung kammermusikalischer Tradition von Beethoven, Brahms, Bartók, Hindemith oder Schostakowitsch, mit Verve und Strukturwillen gespielt von Oliver Klenk, dem vorzüglichen Pianisten Julian Riem, der Geigerin Angelika Lichtenstern und dem Cellisten Philipp von Morgen. Der Mittelsatz ist eine gewaltig vorwärtstreibende Fuge von markantester Beschaffenheit, thematisch höchst einprägsam wie überhaupt die Melodik in allen drei Sätzen. Die Außensätze sind von immensem Kontrastreichtum, am Schluss möchte einem geradezu der Atem stocken. Diese Musik erzählt ihre ganz eigene, existenzielle Geschichte, und nimmt uns auf suggestive Weise in all ihre extremen Bilder und Zustände mit, die nie statisch generiert werden, sondern stets im Fluss sind und in Bezug auf das Ganze, das ein großes, elementar berührendes Drama ist, erstehen. Es ist schon ein Schostakowitsch vergleichbares Wunder, wie man so wenig neutönend in der Erfindung und zugleich so originär und charaktervoll auf der Höhe unserer Zeit im Ausdruck sein kann – ein Wunder, das uns Tishchenko in seinen zahlreichen anderen Werken immer wieder eindrücklich vorgeführt hat. Die Aufführung ist hochklassig, wie auch die sehr konturstarke und allen Beteiligten weitgehend gerechte Aufnahmetechnik. Reinhard Palmers Booklettext ist sachkundig, doch wäre ihm und uns bei einem solch ausgefallenen Programm mehr Raum zu wünschen gewesen.

Christoph Schlüren [24.07.2013]

Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Rodion Schtschedrin
1Drei Hirten für Flöte, Oboe und Klarinette (Trio) 00:21:50
2Die Fresken des Dionysios (für neun Instrumente) 00:13:15
Boris Tishchenko
3Konzert op. 109 für Klarinette und Klaviertrio 00:34:27

Interpreten der Einspielung

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