Cecilia Bartoli · St Petersburg
Decca 478 6767
1 CD • 78min • 2013, 2014
20.10.2014
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Dass die italienische Oper im 18. Jahrhundert am Zarenhof von St. Petersburg einen hohen Stellenwert hatte und dass namhafte Komponisten wie Cimarosa und Paisiello bei Katharina der Großen Anstellung fanden, ist unter Musikfreunden möglicherweise bekannt, doch Näheres weiß man in der Regel nicht, und wer kann sich schon rühmen, die Musik gehört zu haben, die für diesen Hof geschrieben wurde? Cecilia Bartoli hat sie für ihr neuestes Programm ausgegraben und erbringt – gemeinsam mit den hervorragenden Barocchisti unter Diego Fasolis – den Nachweis, wie springlebendig sie nach Jahrhunderte währendem Schlummer in den Archiven des Mariinsky Theaters noch klingen kann.
Rußland war eine kulturelle Steppe, bevor es der weit gereiste Zar Peter der Große mit grundlegenden und radikalen Reformen an das Niveau des westlichen Europa anzunähern versuchte. Seinen drei Nachfolgerinnen, den Zarinnen Anna (1730-1740), Elisabeth (1741-1761) und Katharina (1762-1796) blieb es vorbehalten, den Hof mit musikalischen Großereignissen aufzurüsten. Polen hatte es ihnen vorgemacht und italienische Maestri engagiert. Der Neapolitaner Francesco Araia war der erste russische Hofkomponist. Seine vorher in Mailand erfolgreich herausgebrachte Forza dell′amore e dell′odio ist 1736 die erste in Rußland aufgeführte Oper. 19 Jahre später gibt es mit Tsefal i Prokris desselben Komponisten die erste Oper in russischer Sprache, den Text schrieb der Begründer der modernen russischen Literatur, Alexander Sumarokow. Im gleichen Jahr wurde der aus Stralsund gebürtige Hermann Friedrich Raupach als Cembalist ins Hoforchester berufen und übernahm vier Jahre später Araias Nachfolge.
Raupachs Musik, wie sie sich hier in vier Nummern präsentiert, ist eine veritable Entdeckung. Vor allem seine Altsesta (Alceste, 1758) überwältigt mit melodischem Erfindungsreichtum und dramatischer Durchschlagskraft. Ein europäisches Ereignis: ein deutscher Musiker komponiert ein griechisches Drama auf ein russisches Libretto im Stil der italienischen Oper. Wie alle Werke aus dieser Ära steht Raupachs Musik in der barocken Tradition der Opera Seria, markiert aber bereits den Übergang zur Klassik, der sich dann in den Opern seines Nachfolgers Vincenzo Manfredini vollzieht.
Natürlich läßt sich nicht sagen, ob sich diese Petersburger Opern, in voller Länge gespielt, auf heutigen Spielplänen noch behaupten könnten, doch die von Cecilia Bartoli gewählten Ausschnitte machen auf den Rest neugierig. Wie in ihren früheren Alben folgt sie im Programm einer geschickten Dramaturgie, die ganz auf scharfen Kontrasten beruht. Da werden furiose dramatische Ausbrüche unvermittelt mit elegischen, kontemplativen Gesängen konfrontiert. Oft übernimmt die Sängerin innerhalb einer Oper zwei kontroverse Rollen: in Altseste den martialischen Herkules, der beim Gang in den Hades den Höllenhund herausfordert, und dann die Titelheldin, die sich in ihrer hingebungsvollen Todesarie die Frage stellt, ob sie von ihrem Geliebten, für den sie sich opfert, wirklich ebenso geliebt wird. In Manfredinis Carlo Magno stehen Desiderios Zornesausbrüche den schmeichelnden Liebesgesängen Carlos gegenüber.
Wer die Aufnahmen der Bartoli kennt und deshalb höchste Ansprüche an dieses neue Album stellt, wird nicht enttäuscht. Hoch entwickelte Virtuosität verbindet sich auch hier wieder mit dramatischem Feuer, das vor Energie strotzende Bühnentemperament der Sängerin weicht, wo gefordert, verinnerlichtem und entspanntem lyrischem Gesang. In Diego Fasolis und den Barocchisti hat sie gleichwertige und artverwandte Partner, die jede Stimmung genau einfangen und in den stürmischen Szenen die Musik förmlich unter Strom setzen. In einigen Nummern treten die Instrumentalisten gleichberechtigt an die Seite der Singstimme – die Flötisten Marco Brolli und Jean-Marc Goujon, der Oboist Pier Luigi Fabretti, der Klarinettist Corrado Giuffredi und der Lautenist Michele Pasotti leisten dabei ausgezeichnete Arbeit. Im abschließenden Huldigungschor aus Carlo Magno kommt die Gesangspädagogin Silvana Bazzoni, Bartolis Mutter, in einem kleinen Duo mit der Tochter zu Ehren. Ein Album zum Mehrmals-Hören und zum Verschenken.
Ekkehard Pluta [20.10.2014]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Francesco Araia | ||
1 | Vado a morir | 00:07:18 |
Hermann Friedrich Raupach | ||
2 | Razverzi pyos gortani, laya | 00:06:56 |
3 | Idu na smert | 00:12:38 |
4 | O placido il mare | 00:06:29 |
Domenico Dall'Oglio | ||
5 | De' miei figli | 00:04:31 |
Vincenzo Manfredini | ||
6 | Fra' lacci tu mi credi | 00:06:53 |
Francesco Araia | ||
7 | Pastor che a notte ombrosa | 00:10:15 |
Hermann Friedrich Raupach | ||
8 | March | 00:02:20 |
Vincenzo Manfredini | ||
9 | Non turbar que' vaghi rai | 00:09:14 |
Domenico Cimarosa | ||
10 | Agitata in tante pene | 00:08:10 |
Vincenzo Manfredini | ||
11 | A noi vivi, donna ecclesia | 00:03:14 |
Interpreten der Einspielung
- Cecilia Bartoli (Mezzosopran)
- I Barocchisti (Orchester)
- Diego Fasolis (Dirigent)