XXIV Fantasie per il Flauto
TYXart TXA18105
1 CD • 80min • 2017
08.08.2018
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Mit Fug und Recht mag man die barocke Gattung des unbegleiteten Solostückes für ein Melodieinstrument ohne Generalbass als „Königsdisziplin“ kompositorischer Kunstfertigkeit bezeichnen, muss der Komponist hier doch gleichsam ein Konzentrat musikalischer Ideen liefern und dem Hörer quasi stenografisch Formen und Harmonieverläufe suggerieren. Nicht viele Meister des Barocks haben sich an dieses Genre herangewagt. Neben Johann Sebastian Bachs Solowerken für Violine, Violoncello und Traversflöte stehen hier völlig gleichberechtigt Georg Philipp Telemanns Fantasien-Zyklen auf dem Podest. In seiner Hamburger Zeit publizierte Telemann im Selbstverlag vier große Sammlungen für Traversflöte bzw. Cembalo sowie für Violine bzw. Viola da gamba. Letztere waren uns zwar aufgrund von Telemanns Werkverzeichnis bzw. Verlagskatalogen bekannt, galten aber als verschollen. Erst der Sensationsfund und die Ersteinspielung dieser Gambenfantasien vor wenigen Jahren machte diese außerordentlich wertvollen Kompositionen der Musikwelt wieder zugänglich. Die Faktur der telemannischen Fantasien-Zyklen ist durchaus unterschiedlich. Was die kompositorische Raffinesse anbelangt, so scheint mir der Traverso-Zyklus in der Vielfalt der eingesetzten Mittel und Formen als unübertroffen.
Für den heutigen Musikliebhaber gilt es, zunächst den Begriff der Fantasie zu klären, denn was Telemann hier im Sinn hatte, deckt sich keineswegs mit der heutigen, landläufigen Bedeutung des Begriffes (die sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder ziemlich substantiell gewandelt hatte!). Assoziieren wir heute mit „Fantasie“ eher etwas musikalisch freies, quasi Improvisatorisches, so wird bei näherer Betrachtung der Telemann-Fantasien deutlich, dass es sich hierbei nicht um eine der Stegreif-Improvisation entwachsene Musik handelt, im Gegenteil: Telemanns Musik präsentiert sich in äußerst klaren, teils sogar strengen Formen. Interessant hierbei ist, dass Telemann – ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Gepflogenheit – keinen einzigen Satz mit seinem zugehörigen Formtypus kennzeichnet, d.h. er bezeichnet ein de-facto Menuett, eine Gavotte oder gar eine Fuge niemals als solche, sondern begnügt sich mit Tempo- bzw. Charakterangaben. Im Vergleich zu den sonstigen Publikationen des Komponisten wenden sich die Solofantasien weniger an das Liebhaber-Publikum, sondern ganz offensichtlich an den ausgebildeten Profimusiker bzw. den semiprofessionellen Laienspieler. Es verwundert nicht, dass Johann Joachim Quantz, der große deutsche Traverso-Virtuose der Telemann-Zeit, eben jene Fantasien zum Vergleichsgegenstand eines „Musikerduells“ mit seinem ehemaligen Schüler Moldenit auserkoren hatte. Dies zeigt klar, wie hoch Quantz die musikalische Qualität aber auch die spieltechnische Avanciertheit dieser Stücke eingeschätzt hat.
Für die professionelle bzw. semiprofessionelle Klientel von Telemanns Traverso-Fantasien bestand also überhaupt kein Klärungsbedarf: ein Berufsmusiker erkannte die zugrunde liegenden Satzmodelle ohnedies an ihrem charakteristischen Erscheinungsbild. Was nun ist also bei Telemanns Fantasie-Begriff „frei“? Einzig und allein die musikalische Außenform der Stücke, d.h. deren Satzanzahl und –folge unterliegt keinem genormten Schema. Es gibt Fantasien, die nur aus zwei Sätzen bestehen, daneben aber auch Fantasien mit drei oder vier Teilen (d.h. darin der damals relativ „neuen“ Berliner Sonatenform in Stretta-Technik bzw. der althergebrachten Form der Sonata da chiesa folgend). Die Binnensätze der Stücke jedoch lassen stets klare Formen erkennen, meist traditionelle Tanzsätze, aber auch Fugati, Präludien und sogar eine Französische Ouvertüre. Sowohl die zahlreichen Tanzsätze als auch die strengen (pseudo-)polyphonen Formen fordern vom Spieler gerade das Gegenteil einer agogisch freien Gestaltung, sondern einen deutlichen und stabilen Grundpuls. Es gelingt Telemann absolut meisterhaft, den „fehlenden“ Generalbass zu suggerieren. Häufig ist er melodieimmanent (so z.B. in der Chaconne der V. Fantasie) oder der Komponist vermittelt durch die weite intervallische Trennung musikalischer Linien eine latente Mehrstimmigkeit, die ihm sogar die Suggestion echter Polyphonie ermöglicht. Darüber hinaus erweist sich Telemann in diesen Stücken geradezu exemplarisch als paneuropäischer Komponist, dessen Musik die Charakteristika der verschiedenen Nationalstile seiner Zeit in einem kunstvollen Amalgam zu einer unverwechselbaren persönlichen Musiksprache verschmilzt. Nicht zufällig wurde Telemann bei seiner großen Paris-Reise selbst von den Franzosen, die sich nicht nur musikalisch für den Nabel der Welt hielten, als „einer der Ihren“ anerkannt. Telemann konnte wie ein Chamäleon schreiben: wie ein Franzose, wie ein Italiener oder eben ganz „polystilistisch“ er selbst sein.
Obschon nun die genannten zwölf Fantasien klar für den Flauto traverso bestimmt waren, gehören sie inzwischen ebenso zum Kanon der Blockflötenspieler, die sie entweder in Terztransposition oder – klingend – auf einer Flûte de voix, also einer Blockflöte mit dem gleichen Grundton der Traversflöte, spielen. Somit mangelt es auf dem CD-Markt in keiner Weise an Einspielungen dieses Zyklus. Weshalb also eine weitere Aufnahme?
Die junge deutsche, in England wirkende Blockflötistin Tabea Debus überzeugt hier mit schlagenden Argumenten: Sie gesellt den Fantasien nicht allein zwölf, von einer Schar internationaler Komponisten neu komponierte „Gegenstücke“ hinzu, sondern präsentiert die Fantasien selbst mit einer selten zuvor gehörten gestalterischen Substanz, die dem Hörer fast kongenial Telemanns kompositorische Originalität vor Ohren führt. Selbst ohne den naheliegenden Kunstgriff der modernen „Spiegelfantasien“ hätte es diese Einspielung an die Spitze der gegenwärtig verfügbaren Aufnahmen geschafft. Tabea Debus trifft stets den „richtigen Ton“, den richtigen Affekt, das richtige Tempo und überzeugt auch durch Klarheit in der artikulatorischen Gestaltung. Die zwölf „neuen“ (Miniatur-)fantasien überzeugen in den meisten Fällen ebenso durch den äußerst einfallsreichen und vielfältigen Bezug zum telemannischen Original. Zuweilen interagieren sie sogar ganz direkt mit der Vorlage, indem sie in diese eingewoben sind. Die auch klangtechnisch ausgezeichnet produzierte Aufnahme setzt in jeder Hinsicht Maßstäbe, und durch den geschickten Einsatz sechs verschiedener Blockflötentypen vergehen die fast 80 Minuten Spielzeit wie im Fluge. Ein Meisterstück!
Heinz Braun † [08.08.2018]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Georg Philipp Telemann | ||
1 | Fantasie Nr. 1 A-Dur TWV 40:2 für Flöte solo | |
Dani Howard | ||
3 | Two and a half Minutes to Midnight | |
Georg Philipp Telemann | ||
4 | Fantasia Nr. 2 a-Moll TWV 40:3 für Flöte solo | |
Alastair Penman | ||
8 | Mirrored lines | |
Georg Philipp Telemann | ||
9 | Fantasia Nr. 3 h-Moll TWV 40:4 für Flöte solo | |
Oliver C. Leith | ||
10 | bendy broken telemann Nr. 3 | |
Georg Philipp Telemann | ||
11 | Fantasia No. 3 b minor TWV 40:4 for Flute solo | |
Leo Chadburn | ||
12 | Si la passion pour les plantes exotiques | |
Georg Philipp Telemann | ||
13 | Fantasia Nr. 4 B-Dur TWV 40:5 für Flöte solo | |
Fumiko Miyachi | ||
16 | Air | |
Georg Philipp Telemann | ||
17 | Fantasia Nr. 5 C-Dur TWV 40:6 für Flöte solo | |
18 | Fantasia No. 6 d minor TWV 40:7 for Flute solo | 19:00:00 |
Arne Gieshoff | ||
22 | Entr'acte | |
Georg Philipp Telemann | ||
23 | Fantasia Nr. 7 D-Dur TWV 40:8 für Flöte solo | |
25 | Fantasia Nr. 8 e-Moll TWV 40:9 für Flöte solo | |
Ronald Corp | ||
28 | Meditation and Gigue | |
Georg Philipp Telemann | ||
29 | Fantasia Nr. 9 E-Dur TWV 40:10 für Flöte solo | |
Moritz Eggert | ||
33 | Fantasia in Stereo | |
Georg Philipp Telemann | ||
34 | Fantasia No. 10 f sharp minor TWV 40:11 for Flute solo |
Interpreten der Einspielung
- Tabea Debus (Blockflöte)