Leonard Bernstein
Symphonies 1 & 2
BIS 2298
1 CD • 60min • 2017
19.04.2020
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Der Komponist, Posaunist und Dirigent Christian Lindberg hatte vor zwei Jahren im Rahmen des Zentenariums von Leonard Bernsteins Geburtstag mit der Aufnahme einiger von dessen populärsten Orchesterstücken mit den Philharmonikern aus Liverpool den Rezensenten zur Vergabe von Höchstnoten bewegt. Das lag vor allem an der unwiderstehlichen Virtuosität der Darbietung als auch der Missachtung jeglichen Kitschs, denen sich diese Musik oft gefährlich nähert, zugunsten einer klaren Struktur fernab des musikalischen Rauschs: endlich mal ein durchaus ernst gemeinter Gegenentwurf zu Interpretationen von Kolleginnen und Kollegen, die mehr oder weniger eng an Bernsteins eigene Lesart anknüpften. Jetzt legt Lindberg die ersten beiden Symphonien des US-Kultkomponisten nach – diesmal mit dem nördlichsten Profiorchester der Welt, der in Nordnorwegen gleichzeitig in Bodø und Tromsø beheimateten Arktischen Philharmonie, die er nach deren Gründung 2009 zehn Jahre lang als Chefdirigent leitete.
Bernsteins Symphonien brauchten in Europa Zeit
Bis zu Bernsteins eigener Aufnahme mit dem Israel Philharmonic Orchestra auf DG Ende der 1970er Jahre waren seine drei Symphonien zumindest in Europa noch unbekanntes Terrain. Das hat sich mittlerweile längst geändert, und gerade die zweite Symphonie (1949) – in Anlehnung an W. H. Audens Gedicht The Age of Anxiety – hat als quasi verkapptes Klavierkonzert, noch dankbarer in der revidierten Fassung von 1965, auch das Interesse der Pianisten geweckt und findet sich jetzt öfter auf den Spielplänen. Die erste Symphonie – da war der Komponist erst 26 – baut sogar auf einem noch früheren Orchesterlied für Mezzosopran über Klagelieder des Propheten Jeremias auf, das dann den dritten Satz bildet. Trotzdem zeigt sich bereits in diesen Werken der typische Bernstein mit scharfsinniger Intellektualität und ungehemmtem Ausdruck.
Es ist vor allem der Klavierpart in Bernsteins obiger Aufnahme der 2. Symphonie, der diese bis heute unerreicht bleiben lässt: Wie sein Komponistenkollege Lukas Foss (1922-2009) dort das Klavier erklingen – nein: singen – lässt, mit welcher Brillanz und Kontrolliertheit jedes Detail sinnfällig wird, hat noch niemand auch nur annähernd toppen können. Marc-André Hamelins schönes Spiel etwa wird durch Dmitri Sitkowetskis unsägliches Dirigat an die Wand gefahren. 2018 kamen dann gleich drei bemerkenswerte Neueinspielungen heraus: mit Jean-Yves Thibaudet unter Marin Alsop, mit Beatrice Rana unter Antonio Pappano, schließlich noch mit Krystian Zimerman unter Simon Rattle. Alle auf höchstem Niveau, aber immer auch mit Momenten des Scheiterns, teilweise überhasteter Virtuosität und nicht bis ins Letzte konsequent durchgearbeitet. Die erste Symphonie erscheint da leichter in Perfektion realisierbar.
Drei schwedische Solisten nördlich des Polarkreises
Unter Lindbergs Dirigat, der diesmal überhaupt nichts gegen den Strich bürstet und der erwartbaren Dramaturgie folgt, fällt insbesondere die erstaunliche Qualität des kleinen, aber feinen Orchesters auf. Auch weit nördlich des Polarkreises wird ein junges Ensemble heute Standards gerecht, die vor wenigen Jahrzehnten noch undenkbar waren. Technisch makellos und klangschön, verstehen es die Musiker der Arktischen Philharmonie, sowohl den großen Bogen zu spannen, als auch die eruptiven Momente genüsslich zur Geltung zu bringen: so die durch südamerikanische Rhythmen geprägte Profanation in Jeremiah oder der teils zwölftönige Dirge in der Zweiten. Die wagner-erfahrene Anna Larsson überzeugt ebenso wie der schwedische Pianist Roland Pöntinen, der den prickelnden Jazz-Satz The Masque souverän bewältigt. Allerdings gerät ihm der Aufbau der anfänglichen 14 Variationen (The Seven Ages/Stages) zu wenig zielgerichtet und streckenweise harmlos, im Gegensatz zum Orchester. Das ist alles grundsolide, erfreulich gut gemacht, setzt aber keinerlei neue Akzente. Die Aufnahmetechnik bewegt sich auf üblich hohem BIS-Level: gute Dynamik, natürliches Klangspektrum, leider zu geringe räumliche Tiefe. Der Booklettext ist sehr informativ, die deutsche Übersetzung jedoch nicht ganz fehlerfrei.
Vergleichsaufnahmen – Symphonien Nr. 1 & 2: Ludwig, Foss, Israel Philharmonic, Bernstein (DG 457 757-2, 1977); Johnson Cano, Thibaudet, Baltimore SO, Alsop (Naxos 8.559790, 2013/14); Lemieux, Rana, Orchestra dell’ Accademia Nazionale di Santa Cecilia, Pappano (Warner 0190295661588, 2018) – Symphonie Nr. 2: Hamelin, Ulster Orchestra, Sitkowetski (Hyperion CDA67170, 2000); Zimerman, Berliner Philharmoniker, Rattle (DG 0289 483 5539 6, 2018).
Martin Blaumeiser [19.04.2020]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Leonard Bernstein | ||
1 | Sinfonie Nr. 1 für Mezzosopran und Orchester (Jeremiah Symphony) | 00:23:43 |
4 | Sinfonie Nr. 2 für Klavier und Orchester (The Age Of Anxiety, nach W. H. Auden) | 00:35:08 |
Interpreten der Einspielung
- Anna Larsson (Mezzosopran)
- Roland Pöntinen (Klavier)
- Arctic Philharmonic Orchestra (Orchester)
- Christian Lindberg (Dirigent)