Charles Ives
Piano Sonata No. 1
BIS 2409
1 CD/SACD stereo/surround • 61min • 2019
09.09.2021
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Die zweite Klaviersonate Concord, Mass., 1840–60 von Charles Ives (1874-1954) gehört – zusammen mit seinen dazugehörigen Essays Before a Sonata – heute zur kulturgeschichtlichen DNA der Vereinigten Staaten. Obwohl wegen ihrer – nicht nur technisch – haarsträubenden Schwierigkeiten gefürchtet, wird das Werk mittlerweile auf der ganzen Welt sogar von Pianisten gespielt, die keineswegs auf modernes Repertoire spezialisiert sind. Verglichen damit, hört man die nicht minder anspruchsvolle erste Sonate (1901-10) vom Ausmaß der Hammerklaviersonate deutlich seltener – völlig zu Unrecht! Der Finne Joonas Ahonen hat sich nun nach der Concord-Sonate auch dieses Werkes angenommen.
Meisterwerk von scheinbar hoher Kontingenz
Anders als die philosophisch und programmatisch detailliert durchgeführte zweite, erscheint Ives‘ erste Sonate scheinbar weniger planvoll. Zwar knüpft die fünfsätzige, symmetrische Bogenform an romantische Traditionen an; auch wird die raffinierte motivische Gestaltung leicht hörbar – gleichwohl wirkt vieles ziellos, könnte also genauso gut anderswo hinführen. Zwischen streckenweise völlig logischen Entwicklungen gibt es manchmal – durchaus mit Mahler vergleichbar – Einschübe, die wie ein Innehalten jenseits der Zeit anmuten. Andererseits überschlagen sich woanders die Ereignisse – besonders in den jeweils zweigeteilten, rebellischen Ragtime-Sätzen II und IV, formal mit Scherzo-Charakter. Aber gerade in diesen Überraschungsmomenten, die vielleicht zunächst als willkürlich bzw. spontan erlebt werden, liegt eine der Stärken des Stücks.
Ahonens Mittelweg jenseits der Extreme
Klanglich und technisch bewältigt Ahonen die pianistischen Klippen mühelos. Gemessen an einigen für den Rezensenten besonders auffälligen, keineswegs durchgehend herausragenden Einspielungen (Henck, MacGregor, Stefanovich), beschreitet der Finne so etwas wie einen goldenen Mittelweg. Er vermeidet Extreme – wie bei Joanna MacGregor, die in besagten Ragtimes völlig ausflippt – und nimmt durchweg Tempi, die jedes Detail hörbar machen. Besonders gefällt die genaue dynamische Abstimmung – gerade im hymnischen Finalsatz. Ebenso wenig teilt Ahonen die bewusst extravagante Haltung einer Tamara Stefanovich. Tatsächlich gelingt ihm der große Spannungsbogen überzeugend, aber über Strecken fehlt dann doch die letzte Entschiedenheit des Augenblicks. Man folgt gerne seinem virtuosen Spiel und den zahlreichen von Ives eingefügten Zitaten, aber quasi mit verbundenen Augen – eine Entführung ins Nirgendwo. Mögliche programmatische Ideen, wie die mal vom Komponisten mitgeteilte eines etwas spießigen Generationenkonflikts, bleiben ausgespart. Trotzdem eine fein erarbeitete Lesart dieses komplexen Werkes.
Porträt von Spider-Man’s Alter Ego
Kaum mehr als eine Zugabe ist danach die achtminütige Three-Page Sonata, die bei Ahonen nicht so recht zünden mag, ungeachtet seines einnehmenden Schönklangs. Als heutiger Rebell der Klassikszene gilt der Österreicher Bernhard Gander (Jg. 1969), der immer die Grenzen zwischen U- und E-Musik zu verwischen sucht. Oft ließ er sich von Comic-Helden inspirieren, erstmalig in Peter Parker (2004), wo Bewegungsmuster einer Spinne mit filmischen Mitteln wie Zeitlupe auf der Klaviatur umgesetzt werden. Hochvirtuos und unterhaltsam, jedoch über die Länge mit nicht allzu viel Substanz, ist das immerhin eine Paradenummer für Ahonen. Das Booklet von BIS ist mal wieder ausführlich – inklusive einer Auflistung aller Zitate der Ives-Sonate, die Aufnahmetechnik gewohnt exzellent.
Vergleichsaufnahmen (Ives): Herbert Henck (Wergo WER 60101-50, 1983); Joanna MacGregor (Collins 11072), Tamara Stefanovitch (Pentatone PTC5186741, 2018).
Martin Blaumeiser [09.09.2021]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Charles Ives | ||
1 | Klaviersonate Nr. 1 | 00:40:46 |
Bernhard Gander | ||
8 | Peter Parker | 00:11:23 |
Charles Ives | ||
9 | Three-Page-Sonata | 00:08:10 |
Interpreten der Einspielung
- Joonas Ahonen (Klavier)