The Anonymous Lover
Love Songs by the Monk of Salzburg
Audax Records ADX11205
1 CD • 64min • 2021
25.12.2022
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Kaum jemand wird auf Anhieb sagen können, wer auf die Idee kam, dem lateinischen Weihnachtslied „Resonet in Laudibus“ den deutschen Text „Joseph, lieber Joseph mein“ zu unterlegen? Es war ein Anonymus, der um 1350-90 unter dem Pseudonym „Der Mönch von Salzburg“ dichtete. Dieser gehört zu den späten Minnesängern und steht – auch sprachlich – für den Übergang von Minnegesang zur Zunft der Meistersinger. Das Duo Erßle-Lamprecht hat sich seiner Melodien in teilweise äußerst virtuoser Form angenommen.
Scholastische Entscheidungen
Wer versucht, einstimmige Musik des 14. Jahrhunderts wiederzubeleben, muss seine aufführungspraktischen Entscheidungen mit scholastischer Akribie treffen. Die Melodien sind nur in ihren Tonhöhen entweder – ähnlich wie gregorianische Choräle – in Quadratnotation auf einem 4-Linien-System fixiert, oder stehen mehrheitlich als Punkte in einem 5-Linien-System. Deshalb müssen Rhythmen weitgehend aus dem Versmaß der Dichtung erschlossen werden. Die nächste Entscheidung betrifft dann die Bearbeitung dieser Melodien, die teilweise als „Tenor“ bezeichnet sind und somit zur Imprivisation eines Discantus oder eines Contratenor bassus oder beidem einladen. Will man ergo nur einen Bordunton unterlegen, oder einen zwei- bis dreistimmigen Satz ausarbeiten? Für den Satz stehen dann etwas spätere Quellen als Muster zur Verfügung: der zeitgenössische Codex Faenza für die Zweistimmigkeit und für die Dreistimmigkeit das Fundamentum organisandi (um 1450) von Conrad Paumann, das sowohl im Buxheimer Orgelbuch wie auch im Lochamer Liederbuch erhalten blieb. Hier finden sich dann neben den benötigten Satz- auch die Verzierungsmodelle.
Schließlich muss man sich bei den vokalen Nummern noch Gedanken über die Aussprache machen, was beim Mönch insofern kritisch ist, da er just an der Nahtstelle zwischen Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch dichtete.
Funkelnder Klangzauber
Das Duo Anne-Suse Enßle und Philipp Lamprecht löst diese Aufgaben – in ein paar Nummern mit der Unterstützung von Susanne Ansorg an Fiedel und Rebec und des Rezitators André Hinderlich – bravourös. Dabei kommt eine ganze Batterie von Instrumenten (diverse Blockflöten, Xylophon, Harfe, Einhandflöten, Portativ u.v.a.) zum Einsatz, die allesamt mit einer professionellen Virtuosität gespielt werden, die vor 20 Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Eine in Bezug auf die Mühelosigkeit von Tonbildung, Artikulation und Fingerwerk so ausgefeilte Blockflötentechnik, wie sie Anne-Suse Enßle demonstriert, stünde wahrlich manch berühmteren Solisten wohl an. Ebenso brillant Philipp Lamprecht am mittelalterlichen „Hölzern Glächter“, wie man das Xylophon damals nannte. Er singt zudem passenderweise betont ungekünstelt. Einzig die Aussprache der Diphtonge, bei denen der Mönch klar zwischen „ai“ – unserem modernen Ei entsprechend – und „ei“ – wie in Englisch „say“ – ist mir zu gleichförmig, da es der Sprache dadurch etwas von ihrer Archaik nimmt. Beide musizieren jedoch mit einem wunderbaren Gefühl für das Fließen dieser Musik. So kommt das Mittelalter sinnlich und poetisch als höfische Kammermusik, jedoch ohne Austerität oder den gern zelebrierten Klamauk daher.
Das Booklet ist opulent und äußerst informativ. Besonders instruktiv sind die beiden Abbildungen von Handschriften auf der Außenseite, die die obigen Erläuterungen zur Notation illustrieren. Exzellente Klangtechnik.
Fazit: Wer mittelalterliche Musik kennenlernen will, greife unbedingt zu dieser CD. Wer sie bereits schätzt, der schwelge. Absolute Empfehlung!
Thomas Baack [25.12.2022]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Mönch von Salzburg | ||
1 | Dem allerlibsten schönsten weib W 7 | 00:03:12 |
2 | Weib aller frëwden überkrön W 41 | 00:06:01 |
3 | Wer ich ain stund, das ich von mund W 49 (Recitation) | 00:00:43 |
4 | Pey perlin und pey spangen W 17 | 00:05:39 |
5 | Traut allerliebstes frewlein czart W 28 | 00:02:30 |
6 | West du es recht liebs frewlein czart W 46 | 00:03:43 |
7 | West du es recht liebs frewlein czart W 46 (Estampie) | 00:02:24 |
8 | West du es recht liebs frewlein czart W 46 (Rezitation) | 00:01:13 |
9 | Pelangen ist ain pitter smercz W 26 | 00:04:23 |
10 | Ain mensch erfreut all mein natur W 9 | 00:02:58 |
11 | Weib aller frëwden überkrön W 41 (Estampie) | 00:02:49 |
12 | Iv ich jag nacht und tag W 31 | 00:05:11 |
13 | Ob allen wundern wundert mynn W 12 | 00:02:10 |
14 | Phuech, ruemer, lugner, klaffer W 45 | 00:04:15 |
15 | Wenn ich betracht die gueten nacht W 20 | 00:04:32 |
16 | Vil maniger geud von sweigen sich W 32 | 00:03:05 |
17 | Wer ich ain stund, das ich von mund W 49 | 00:02:32 |
18 | Gar leis in senfter weis W 2 (Rezitation) | 00:01:12 |
19 | Gar leis in senfter weis W 2 | 00:05:34 |
Interpreten der Einspielung
- Anne-Suse Enßle (Blockflöte)
- Philipp Lamprecht (Gesang, Percussion)
- Susanne Ansorg (Fidel, Rebec)
- André Hinderlich (Rezitation)