Gordon Sherwood
Organ Works
Sonus Eterna 37423
1 CD • 70min • 2022
24.02.2024
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Johann Sebastian Bach bleibt das Maß aller Dinge in der Orgelmusik, und zugleich – ausschließlicher als in jeder anderen Gattung – die modernste Musik, aller Ambitionen von Max Reger, Louis Vierne, Wilhelm Middelschulte, Leo Sowerby Olivier Messiaen usw. eingedenk. Der einzige, der vielleicht ebenso zeitlos gegenwärtige Musik für die Orgel geschrieben hat, ist Jean-Louis Florentz (1947-2004), und ihn haben die Organisten außerhalb Frankreichs noch lange nicht entdeckt.
Wenn nun also der am Ende seines Lebens in Oberbayern heimisch gewordene Weltenbummler US-amerikanischer Nationalität Gordon Sherwood (1929-2013) auf dem vierten Sherwood-Album von Sonus Eterna mit seinem beinahe gesamten Orgelschaffen in Ersteinspielung porträtiert wird, so wird sofort klar, dass er gar kein Hehl daraus macht, dass Bach Alpha und Omega der Orgelmusik ist. Sherwood versucht nicht einmal, dem Sog der Bach’schen Größe zu widerstehen und sich irgendwie abzugrenzen. Das hat er auch gar nicht nötig, denn zu stark sind seine eigene auf echter Könnerschaft und visionärer Inspiration beruhenden kreativen Triebkräfte, um nur für einen Moment in Verlegenheit zu geraten.
Chamäleon und Originalgenie in Einem
Am konkreten musikalischen Ergebnis gemessen, ist Sherwood fast immer einer der besten Komponisten seiner Zeit gewesen. Wenn man die Frage nach der personalstilistischen Unverwechselbarkeit stellt, ist es etwas komplizierter, denn er hat nicht nur Dinge geschaffen, die offenkundig nur von ihm stammen können, sondern war auch ein phänomenales schöpferisches Chamäleon, das sich – vielleicht ein bisschen vergleichbar dem fast gleichaltrigen Rodion Schtschedrin – in jeder Art von Tonsprache schnell zuhause befand und mit schwindelerregend idiomsicherer Virtuosität bewegen konnte. Aber auch dann ist es keine bloße Epigonenmusik, keine Kopie in blendend amalgamierter Beltracchi-Manier – der Hörer muss dann eben die subtileren Aspekte dieser Musik wahrnehmen, um zu erfahren, dass Sherwood auch hier auf seine einmalige Weise agiert.
Das hier vorgestellte Sherwood’sche Orgelschaffen umfasst drei Werkzyklen und eine große B-A-C-H-Huldigung: die frühe Fugen mit Vorspiel op. 11 sind 1963 in Rom entstanden, Toccata and Fugue on BACH op. 61 1976 in Nairobi, die Four Joyful Fugues op. 72 und die Four Serious Fugues op. 73 1985 in Paris. Einzig die 1986 in Paris komponierte Fantasy and Fugue on a Theme by Carl Goldmark op. 76 fehlt – wohl aus Gründen der limitierten CD-Spieldauer – auf vorliegendem Album, und ich hoffe, dass sie bei anderer Gelegenheit, wo und von wem auch immer, nachgereicht wird.
Hochwertiges Album, hinreißend gespielt
Mit Kevin Bowyer wurde einer der fähigsten und erfahrensten Virtuosen unserer Zeit gefunden, der das Programm 2022 auf der 1915 von Nenninger & Moser gebauten und nach den schweren Kriegsbeschädigungen von Anton Schwenk, Wilhelm Stöberl und Johannes Führer im Verlauf von fast einem halben Jahrhundert restaurierten Margaretenorgel in St. Margaret in München-Sendling eingespielt hat. Mit seinem großen Reichtum an Registern erweist sich dieses Instrument als besonders geeignet für ein Programm, das sich nirgends mit äußerlichen Modernismen, billigen Effekten und spektakulären Klischees aufhält, sondern sich ganz dem Tonsatz als Wesen und Entfaltungsfeld aller wahrhaft substanziellen und wesentlichen Musik widmet. Und so ist es – auch dank glänzender, intelligenter Aufnahmetechnik – gelungen, fast immer jene polyphone Durchsichtigkeit zu erreichen, die alle beteiligten Stimmen zu ihrem Recht kommen lässt und zugleich den unbedingt nötigen geschlossenen Gesamteindruck zu vermittelt. Und Bowyer versteht diese Musik und lässt sie auf lebendige und ausdrucksstarke Weise neu entstehen, mit Maß, Geschmack und klarer Orientierung, nie akademisch steif, nie originalitätssüchtig entgleisend.
Ein weiterer außergewöhnlicher Vorzug dieses Albums ist der in mehrerlei Hinsicht umfassende Begleittext von Florian Schuck, der sowohl über Lebensgang und ästhetische Verortung als auch mit analytischer Präzision über die Werke selbst Auskunft gibt, ohne in theoretisierender Trockenheit den Hörer belehren zu wollen.
Retrospektiv subtiler Revolutionär
Die Programmreihenfolge beginnt mit dem zweiten Werk, der Fantasie und Fuge über BACH, dann folgen die beiden späten Zyklen, und zum Schluss werden die drei frühen Fugenwerke beigegeben. Das ist insbesondere deshalb sinnvoll, weil die recht kurzen ersten zwei Stücke des Opus 11 (Präludium und Fuge sowie Pastorale und Fuge)noch am wenigsten charakteristisch ausgeprägt sind, wobei insbesondere die schlichte pastorale Siciliana sehr reizvoll ist. Doch das dritte dieser Stücke, alleine fast doppelt so lang wie die beiden vorhergehenden zusammen, ist bereits eine sehr ambitionierte und dramatisch aufgebaute Toccata und Fuge in g-moll, die in ihren katarakthaft hochfahrenden und niederstürzenden Passagen durchaus an die berühmteste aller Toccata-und-Fuge-Kompositionen erinnert, an jene allgegenwärtige in d-moll, die nach Ansicht der orthodoxen Musikwissenschaftler nun doch nicht von Bach sein soll und ganz besonders durch Leopold Stokowskis ‚wildromantische‘, improvisatorisch fesselnde Orchesterfassung Millionen von Zuhörern zum vertrauten Abenteuer wurde.
Diesem furiosen Vorbild noch näher kommt Sherwood dann in seinem vollkommen ausgereiften nächsten Meisterwerk, der Toccata und Fuge über BACH, in welcher er sozusagen die Welt von Bachs (oder Nicht-Bachs) Toccata und Fuge in d-moll mit derjenigen der Schlussfuge aus der Kunst der Fuge verheiratet. Unwiderstehlich mitreißende Musik, entsprechend impulsiv dargeboten!
Mit ganz vielen herrlichen Subtilitäten warten die zwei späten Zyklen in ihren insgesamt acht Fugen auf. Das ist höchste kompositorische Kunst, die sich in ihrer Natürlichkeit völlig zu Recht überhaupt nicht um die Frage der ‚Originalität‘ kümmern muss, wie Bach dies ja auch nicht tun musste. Herrlich etwa, wie bei aller an der Oberfläche scheinbaren Wohlgeordnetheit in der dritten der heiteren Fugen das Thema in der Quarte (Unterquinte) statt in der Dominante beantwortet wird, wie elegant der Modulationsplan von G-Dur nach E-Dur und zurück führt, als wäre dies ebenso Teil einer selbstverständlichen Tradition. So hätten die Revolutionäre des späten Barock komponieren können! Es ist also ein Art feinsinnig retrospektive Revolution… Wenn mein Eindruck mich nicht trügt, ist Bowyer vielleicht in der Welt der heiteren Fugen noch etwas heimischer geworden als in derjenigen der grandios durchgeführten ernsten Fugen, die den letzten Beweis liefern, dass Sherwood ein großer, absolut ernstzunehmender Komponist von Orgelmusik in der Nachfolge Johann Sebastian Bachs ist.
… was jeder Organist und Orgelliebhaber kennen sollte …
Sherwood hat sich die Frage nach der Bedeutung, dem historischen Gewicht seines Schaffens, wenn überhaupt, nicht zentral gestellt. Er war nicht von einer ‚Ego-Mission‘ besessen wie die Beethoven-Nachfolger und insbesondere Arnold Schönberg bzw. die nach und nach auf ihr tatsächliches Format reduzierenden Avantgarde-Ikonen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er hat sich um diese Zeitgenossenschaft nur am Rande gekümmert und ging ansonsten maximal unbekümmert seinen Weg durch das gesamte Spektrum der Musik, das er vor allem mit seinem Klavierschaffen kaum ermesslich bereichert hat. Doch auch der Orgel hat er – wie hier so eindrücklich zu erleben – essenzielle Werke von zeitlosem Wert geschenkt, die alle Organisten kennen und spielen und alle Liebhaber von Orgelmusik unbedingt zur Kenntnis nehmen sollten.
Christoph Schlüren [24.02.2024]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Gordon Sherwood | ||
1 | Toccata and Fugue op. 61 | 00:16:49 |
3 | Fuga I op. 72 Nr. 1 (aus: Four Joyful Fugues) | 00:03:55 |
4 | Fuga II op. 72 Nr. 2 (aus: Four Joyful Fugues) | 00:04:10 |
5 | Fuga III op. 72 Nr. 3 (aus: Four Joyful Fugues) | 00:02:47 |
6 | Fuga IV op. 72 Nr. 4 (aus: Four Joyful Fugues) | 00:02:57 |
7 | Fuga I op. 73 Nr. 1 (aus: Four Serious Fugues) | 00:04:46 |
8 | Fuga II op. 73 Nr. 2 (aus: Four Serious Fugues) | 00:03:40 |
9 | Fuga III op. 73 Nr. 3 (aus: Four Serious Fugues) | 00:02:51 |
10 | Fuga IV op. 73 Nr. 4 (aus: Four Serious Fugues) | 00:03:36 |
11 | Prélude et Fugue C-Dur op. 11 Nr. 1 (aus: Trois Compositions en Style Baroque) | 00:04:22 |
13 | Pastorelle et Fugue a-Moll op. 11 Nr. 2 (aus: Trois Compositions en Style Baroque) | 00:04:28 |
15 | Fantaisie et Fugue g-Moll op. 11 Nr. 3 (aus: Trois Compositions en Style Baroque) | 00:14:13 |
Interpreten der Einspielung
- Kevin Bowyer (Orgel)