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Besprechung CD/SACD stereo/surround

Jörg Widmann

Piano Music

MDG 904 2320-6

1 CD/SACD stereo/surround • 80min • 2016, 2023

05.10.2024

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 9
Klangqualität:
Klangqualität: 10
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 10

Der Münchner Jörg Widmann (Jahrgang 1973) gehört seit Jahren zu den meistgespielten lebenden klassischen Komponisten weltweit, nicht zuletzt seine Werke mit musikhistorischen Bezügen insbesondere zu Komponisten der Romantik: Schubert, Schumann, Mendelssohn und Brahms. Diese können von satztechnischen oder rein klanglichen Parallelen bis zu Allusionen oder – eher selten – wörtlichen Zitaten aus ganz bestimmten Stücken der musikalischen „Paten“ gehen. Um Widmanns Intentionen zu folgen, ist es unumgänglich, diese Vorbilder zumindest grob zu kennen. Es geht hierbei freilich nie um das Spiel: „Rate den Komponisten“ oder das konkrete Stück. Vielmehr taucht der Hörer in eine Welt ein, die sehr bewusst die Romantik reflektiert, oft traumwandlerisch, quasi unbewusst, aber bisweilen auch recht derb parodistisch oder ironisch. Diese innere Auseinandersetzung wird selbst dann verständlich, wenn man die Werke, auf die sich Widmann bezieht, schon lange nicht mehr gehört hat.

Vier Werkzyklen für Klavier solo

Leider erfährt man im sonst sehr präzise und kundig Widmanns Klavierwerke erklärenden Booklet so gut wie nichts über die chinesische Pianistin Yubo Zhou, außer dass sie teilweise in Deutschland studiert, internationale Preise gewonnen hat und nun selbst an der Jimei Universität in China lehrt. Drei der vier hier dargebotenen Stückfolgen Widmanns sind tatsächlich zyklisch, lediglich die elf Zirkustänze machten einzeln gespielt Sinn. Alles gibt es bereits auf CD, allerdings – abgesehen von Jan Philip Schulze – immer kombiniert mit anderen Komponisten. Die Zirkustänze von 2012 beschäftigen sich mit Popularmusik im weitesten Sinne: Da gibt es neben einem kurzen Boogie-Woogie verschiedene Walzer, eine hebräische Melodie usw. Den krönenden Abschluss bildet der Bayerisch-babylonische Marsch – bissige Verfremdung des Defiliermarsches und der lustigen Holzhackerbuam. Verglichen mit der bloß äußerlich virtuosen, auch von der Anschlagskultur wenig differenzierten Aufnahme Anna Vinnitskayas, bringt Frau Zhou die offenkundigen wie versteckten Untiefen weitaus reflektierter zu Tage: klarer Punktsieg hier.

Robert Schumann als Pate

Bei den Elf Humoresken (2007) zeigen sich die vielfachen Bezüge zu Schumanns Kinderszenen, der Humoreske op. 20 oder den Waldszenen bereits in den einzelnen Titeln. Während Schulze trennscharf artikuliert, dabei jedoch ein wenig trocken und unterkühlt wirkt, suhlt sich Aaron Pilsan durchaus überzeugend in romantisch-nostalgischem Wohlklang, für den er sich die nötige Zeit nimmt, glättet manche Verzerrung und offenbart so eine ganz persönliche Haltung: vielleicht etwas einseitig. Widmann notiert – nicht nur in seiner Klaviermusik – geradezu pedantisch genau und bis in die kleinsten agogischen Regungen hinein. Das lässt den Interpreten auf der einen Seite wenig Zweifel, was der Komponist überhaupt möchte, auf der anderen verführt es womöglich, sich mit der Realisierung alles Notierten – schwierig genug – bereits zufrieden zu geben. Das darf man Yubo Zhou sicher nicht vorwerfen: Sie nutzt die größte dynamische Spannweite der hier genannten Pianisten, traut sich schon mal passgenau so leise zu spielen, dass der Flügel gerade noch anspricht. Zudem arbeitet sie die historischen Bezüge gekonnt und stets spannend in ein klangliches Gesamtkonzept mit ein. Dennoch scheint sie bisweilen emotional etwas unentschieden.

Fantastische Brahms- und Schubert-Bezüge mit Tiefgang

Mit welch fantastischem Tiefgang man Widmanns Kosmos an Anspielungen realisieren kann, bewies András Schiff mit seiner kongenialen Aufnahme der fünf Intermezzi (2010), die sich logischerweise mit Brahms auseinandersetzen. Das zentrale, mit zwölf Minuten ungewöhnlich ausufernde Stück Mit dunkler Glut ist wohl der bislang ergreifendste Klavierbeitrag des Komponisten – intelligent und von überwältigender Ausdruckskraft. Zhou hängt sich in diesem Fall auffällig dicht an Schiffs Darbietung dran, was erstaunlich gut klappt, jedoch fast als versuchte Imitation zu bewerten ist. Bei den Schubert-Reminiszenzen Idyll und Abgrund gelingen der Chinesin insbesondere die Außensätze: Widmanns Vortragsangaben irreal bzw. desolat zeigen sie in ihrem Element. In den heitereren Teilen erreicht sie nicht ganz den Charme von Yehuda Inbar.

Kluge Zusammenstellung mit Repertoirewert

Fazit: Yubo Zhou kommt mit ihrem klangschönen und vielschichtigen Klaviervortrag klar an das Niveau der bisherigen Konkurrenzaufnahmen, allerdings ohne großflächig spürbar eigene Akzente zu setzen, was angesichts Widmanns Übernotation generell schwerfallen dürfte. Die Tontechnik ist ebenfalls ausgezeichnet, so dass schon die Zusammenstellung der vier Zyklen auf einer reinen Widmann-CD ein echtes Kaufargument darstellt. Wer am Klavierwerk Widmanns interessiert ist, ohne gleich einen ganzen Stapel an Tonträgern erwerben zu wollen, kommt an dieser Veröffentlichung eigentlich kaum vorbei und darf bedenkenlos zugreifen.

Vergleichsaufnahmen: [Zirkustänze] Anna Vinnitskaya (Alpha Classics 1044, 2023); [Idyll und Abgrund] Yehuda Inbar (Oehms OC 1712, 2018); [Intermezzi] András Schiff (ECM 2621, 2018); [Humoresken] Aaron Pilsan (Alpha Classics 896, 2015), Jan Philip Schulze (Neos 10909, 2009).

Martin Blaumeiser [05.10.2024]

Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Jörg Widmann
1Zirkustänze 00:22:33
12Idyll und Abgrund (Sechs Schubert-Reminiszenzen für Klavier) 00:14:02
18Intermezzi for piano 00:20:43
23Humoreske Nr. 1 (Kinderlied) 00:03:19
24Humoreske Nr. 2 (Fast zu ernst) 00:01:06
25Humoreske Nr. 3 (Anfangs lebhaft) 00:02:55
26Humoreske Nr. 4 (Waldszene) 00:01:00
27Humoreske Nr. 5 (Choral) 00:02:31
28Humoreske Nr. 6 (Warum?) 00:01:28
29Humoreske Nr. 7 (Intermezzo) 00:01:01
30Humoreske Nr. 8 (Zerrinnendes Bild) 00:01:53
31Humoreske Nr. 9 (Glocken) 00:01:04
32Humoreske Nr. 10 (Lied im Traume) 00:00:42
33Humoreske Nr. 11 (Mit Humor und Feinsinn) 00:05:25

Interpreten der Einspielung

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