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Kompass

Weihnachtskantaten – einmal anders

Britten • Respighi • Honegger • Vaughan Williams

Und es begab sich zu der Zeit, dass schon seit den Herbstferien Schoko-Weihnachtsmänner zu kaufen waren, und Chöre landauf, landab mit der Einstudierung des Bachschen Weihnachtsoratoriums begannen... Wenn auch eines der festlichsten, so ist das Weihnachtsoratorium doch keineswegs das einzige Werk, das die stille Zeit im Blick hat. »KLASSIK heute« hat sich deshalb unter hier unbekannten Weihnachtskantaten einiger europäischer Nachbarn umgesehen.

Ralph Vaughan Williams (1872–1958)

Die vielfältigen englischen Weihnachtstraditionen zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert finden in Hodie – A Christmas Cantata (1954) einen kaum adäquaten Ausdruck. Die Bandbreite reicht im Gegenteil von Bach-ähnlichen Chorälen und bekannten Stilmitteln aus Bachs Passionen über von der Orgel begleitete Knabenchorsoli und diverse Zitate bis hin zu Effekten des großen Sinfonieorchesters. Vaughan-Williams, der soeben mit der herben Sinfonia Antarctica und extravaganten Solokonzerten für Tuba und Mundharmonika aufgewartet hatte, überraschte sein Publikum mit Hodie einmal mehr mit einem experimentierfreudigen, vitalen Werk, wie man es von einem 82jährigen kaum mehr erwartet hätte.

Benjamin Britten (1913–1976)

Die Ceremony of Carols (1942) entstand während Brittens Rückreise aus dem Kriegsexil in Amerika, auf dem Schiff nach England. Die Idee kam ihm in einer sehr kalten Gegend: Er notierte seine mittelalterlichen Weihnachtsliedertexte in ein Notizbuch, das er in Halifax, Nova Scotia (Polarmeer) bei einem Landgang kaufte. Die Knabenstimmen erinnern an Brittens endgültig verlorene Kindheit; die Texte der Carols handeln von der Einsamkeit des Kindes im Winter, von Werden und Vergehen; die Harfe erinnert aber auch an die Erneuerung durch den nahenden Frühling.

Ottorino Respighi (1879–1936)

Die Lauda per la Nativitá del Signore (1929) ist gleichfalls eine klein besetzte Kantate für drei Soli, Chor, sechs Bläser, Klavier und Schlagzeug. Sie stammt aus den letzten Lebensjahren des Komponisten, aus einer Zeit also, zu der Respighi sich nach zahllosen Orchester- und Kammermusikwerken intensiv in das Opernschaffen stürzte. Zum andern spiegelt die Lauda auch seine Beschäftigung mit mittelalterlicher Musik wider: Vieles erinnert an Monteverdi (fünf Jahre später sollte Respighi mit seiner Einrichtung des Orfeo die Monteverdi-Renaissance einleiten), und der Text der Lauda stammt von Jacopo da Todi, dem mittelalterlichen Dichter des von anderen vielfach vertonten Stabat mater.

Arthur Honegger (1892–1955)

Die Cantate de Noël (1952/53) verwendet wiederum ein großes Orchester, Bariton-Solo, Chor, Kinderchor und Orgel. Einiges musikalische Material stammt aus einer früher geplanten Passionsmusik für Salzach, deren Fertigstellung der Krieg verhindert hatte. Honegger komponierte die Kantate Weihnachten 1952, also kurz vor Vaughan-Williams Hodie, und wie dieser benutzt auch Honegger ein Libretto, das er selbst aus liturgischen Texten und populären Weihnachtsliedern zusammengestellt hat. Die Kantate ist ein Auftragswerk von Paul Sacher zum 25jährigen Bestehen seines Basler Kammerchors. Der Komponist war zu dieser Zeit schon krank; die Instrumentierung der Weihnachtskantate wurde erst im Oktober 1953 im Züricher Kantonalkrankenhaus beendet.

Gottesdienst und Krippenszenen

In guter liturgischer Tradition beginnt Honegger mit einem bekannten Psalm, den man an solcher Stelle nicht erwartet – dem De profundis. Geschickt nimmt er diesen Abgrund zum Symbol für die Dunkelheit, die Christus, Licht der Welt, durch seine Geburt erhellen soll: Orgelpedaltöne und unerbittliche Auf- und Abschritte der zupfenden Bässe symbolisieren die Tiefe; der Chor entwickelt darüber eine polyphone Textur, und das Ganze wirkt wie eine Nachkriegs-Umsetzung des Eingangschors einer Bach-Kantate. Nach ausführlicher Schilderung erhellt der von der Orgel begleitete Kinderchor endlich zweimalig diese Finsternis: „Freu dich, Israel: Gekommen ist Emmanuel“, und der Engel in Gestalt eines Baritonsolisten verkündet uns große Freude, begleitet von der Orgel und himmlischen Trompeten-Herolden. Diese Ausführlichkeit ließe eigentlich ein wenigstens 90minütiges Stück erwarten; der Einleitungsabschnitt macht jedoch in Wirklichkeit bereits zwei Fünftel des Stücks aus.

Vaughan Williams traut sich dagegen und komponiert einen regelrechten einstündigen Weihnachtsgottesdienst. Vorangestellt ist ihm das traditionelle Prozessional Hodie Christus natus est – allerdings nicht als liturgischer Gesang, sondern als barbarisches Scherzo, das vielleicht an die keltischen Lichtfest-Riten erinnern möchte: Ein bukolischer Taumel, der sich in ein regelrecht orgiastisches Halleluia hineinsteigert und schließlich in swingende Ekstase verfällt, wie man sie eher von einem Bernstein gewöhnt ist (Chichester Psalms). Doch danach zeichnet auch Vaughan Williams mit ganz ähnlichen Mitteln wie Honegger das Dunkel in der Welt: In eindrucksvollen Klängen bricht die Kälte des Winters herein. Der Engel tritt auch hier auf (nun ein Tenor), verkündet aber Josef das frühere Ereignis, die Ankündigung der jungfräulichen Schwangerschaft Mariae, deren Sohn Jesus heißen soll. Dabei zitiert der Komponist erstaunlicherweise das Incarnatus aus Beethovens Missa solemnis!

Britten und Respighi setzen gegen diese Brocken intime Kontraste. Die aus neun Wiegenliedern bestehende Ceremony of Carols beginnt zwar auch mit dem Hodie – Britten gibt sogar die Anweisung, dass zum Anfang der Chor von der Ferne her auftreten (Procession) und zum Ende mit dem gleichen Gesang auch wieder abtreten soll (Recession). Doch damit ist die Ähnlichkeit mit einem Gottesdienst auch schon vorbei. Beide Komponisten versetzen uns gleich an die Krippe. Britten findet dafür in lichtem A-Dur ein fröhliches Ostinato der Harfe zu dem Lied Willkommen sei, himmlisches Kind – Klänge, die das strahlende Kind in der Krippe anschaulich beschreiben. Respighi zeichnet eine Miniatur-Pastorale: Oboe, Englischhorn, Flöte und Fagott schwingen Wiegenlied-Ranken, und der Sopran-Engel verkündet den Hirten die bekannte große Freude. Solcherlei Siciliano-Musik im Sechs-Achtel-Takt kennen wir aus dem Bachschen Weihnachtsoratorium.

Respighi gelingt es, durch die Verbindung von Kirchentonarten einerseits, durch betörende Sinnlichkeit hinter der vorgeblichen Krippenseligkeit andererseits, diesem Klischee etwas ausgesprochen Ketzerisches zu verleihen. Gegen Ende dieser Szene verdunkelt sich die Musik in die Tiefe, und der Tenor-Hirte beschreibt das bekannte irdische Elend der göttlichen Familie. Doch nie wird die Musik bei Respighi, einem Kind der Sonne Italiens, wirklich anschaulich kalt. Britten hingegen nutzt all seine Mittel, um die Kälte des Winters adäquat auszudrücken. In weiteren Wiegenliedern wird es harmonisch immer zweideutiger; die Harfe spielt erst mit dem Pendeln von Dur- und Moll-Terz, dann mit dem Wechsel von Dur und Moll selbst. Zugleich wird der Chorsatz immer kunstvoller, verschachtelt wie Schneekristalle: Soli treten auf, wechseln sich mit dem Tutti ab. Richtig kalt wird es dann ab This little babe: Mit jeder Strophe setzt eine weitere Stimme in engem Kanon ein; zusammen mit den Wiederholungen der Harfentöne entsteht der Eindruck eines Fröstelns, fortgesetzt in dem eisigen Harfensolo und seinen gesäuselten Flageolett-Tönen und als Höhepunkt dem bitterkalten, erstarrten Lied In Freezing Winter Night. All dies bereitet eindrucksvoll die Frühlingsankündigung des Spring Carol vor, mit seiner wundervollen Erwartungsstimmung, bevor das lebendige, gleichwohl etwas verdrossene Deo Gratias diese Vision wieder relativiert.

Individuelle Weihnachtssicht

Britten ist wohl das intimste, verinnerlichteste Weihnachtsstück gelungen, und zugleich vielleicht die Musik, die am wenigsten an den Geist der Weihnacht glaubt: Zu viel persönliche Verzweiflung schwingt da mit. Respighi dagegen ist über weite Strecken einzig am szenischen Illustrieren interessiert. Das mag an der etwas ausschweifenden Textvorlage liegenden. Andererseits ist es erstaunlich, wieviele neue Seiten und Farbkombinationen er der Krippenszene abgewinnen kann und wie er sich die größten Steigerungen für den Schluß aufhebt: Erst nach circa 15 Minuten beherrscht der Männerchor das Geschehen; Klavier und Schlagzeug setzen erstmalig vier Minuten ein, und die vielstimmige Schlußsteigerung bricht nicht nur in bacchantischen Geburtsjubel mit Glockenklängen aus, sondern läßt stellenweise sogar einen an Bach erinnernden, polyphonen Schlußchor anklingen, der in eine serene Coda mit himmlischem Sopransolo ausläuft.

Honeggers Weihnachtskantate dürfte für deutsche Ohren am vertrautesten klingen, da die von ihm verwendeten Lieder bekannt sind; manche werden sogar auf Deutsch gesungen (das Werk wurde ja für die Schweiz konzipiert) – zum Beispiel das berühmte Es ist ein Ros’ entsprungen. Dieses Lied leitet ein Quodlibet bekannter Weihnachtslieder ein: O Du fröhliche, Vom Himmel Hoch, Stille Nacht – alles ist dabei, verschachtelt, überlagert, verästelt. Es wirkt beinahe, als ob Honegger eine in der Horizontalen viel ausgedehnter denkbare Musik in die Vertikale komprimieren möchte. Es folgt wiederum eine Psalm-Vertonung – der bachisch-strenge Psalm 117 Laudate Dominum omnes gentes auf den Choral Wachet auf, ruft uns die Stimme. Die Coda freilich endet augenzwinkernd mit etlichen Weihnachtsliedfetzen über einem endlosen Orgelpunkt in C und feierlichem Glockengeläut.

Das Humanistisch-Verbindende des Weihnachtsgedankens allerdings bringt Vaughan Williams wohl am überzeugendsten zum Ausdruck. Pomp wird eher vermieden; im Gegenteil: es klingen schlichte Bach-Choräle an. Durch Kinderchor und Orgel in der Rolle des Evangelisten wird die Atmosphäre immer wieder ausgesprochen kontemplativ; zugleich wird das Stück so übersichtlich gegliedert. Freilich kratzen die progressiven Gedichtvertonungen sehr am betulichen Anglikanismus: „Christnacht, 12 Uhr: Alle auf die Knie!“, heißt es böse mit Thomas Hardy, obwohl die pastorale Musik mit Flöten und Oboen eher an Respighi erinnert. Und: „Wir singen einem einzigen Herrn, wo der doch eigentlich selbst nur eine der Kerzen halten sollte“, dichtete ketzerisch George Herbert, von Vaughan Williams in eine harmlose Pastorale verpackt, hinter der sich aber schon das visionäre Finale der achten Sinfonie verbirgt.

Überhaupt passiert musikalisch oft das Gegenteil des Textes: Das Lullaby ist musikalisch gar keins und greift mit seinen Fanfaren auf das Hodie zurück. Der Marsch der Drei Könige klingt ausgesprochen bedrohlich und gewalttätig, mit ostinaten Paukenrhythmen, die an die Ben-Hur-Filmmusik von Miklos Rosza denken lassen. Es geht Vaughan Williams vor allem um den Triumph des Lichts über die Finsternis, und er läßt keinerlei Zweifel daran, dass der Christengott für ihn keinesfalls der allein selig Machende ist. „Im Anfang war das Wort“, stellt er in dem erschreckenden Epilog fest. Und dann bricht sich eine persönliche Vision entfesselt Bahn: „Ja: Wahrheit und Gerechtigkeit werden dann zurückkehren, hinunter zu den Menschen, in einem Regenbogen, und, wie Heiligenscheine tragend, wird Gnade von ihnen flankiert. Thronend in himmlischem Glanz, mit strahlenden Füßen, die die wattigen Wolken durchstoßen; und der Himmel wird, wie irgendein Fest, weit seine Tore zu ihrer hohen Palasthalle öffnen.“ Einmal mehr zeichnet Vaughan Williams hier sein Bild der himmlischen Stadt ewiger Liebe, das seit der fünften Sinfonie und der Oper The Pilgrims Progress bis hin zum Ende von Hodie und später noch in der achten Sinfonie immer deutlicher hervortritt.

Dr. Benjamin G. Cohrs

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06.07.2016
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