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Kompass

Romantische Sinfonien

Tournemire • Hanson • Chávez • Bruckner

Das „Romantische“ bietet weit über die geschichtlichen Grenzen dieses Abschnitts des 19. Jahrhunderts hinaus immer wieder ein willkommenes Thema für Komponisten. Doch was „romantisch“ eigentlich genau ist, wird dabei selten deutlich. Für das unmittelbare Empfinden ist damit vor allem ein Tonfall der Leidenschaft und Schwärmerei verbunden, der sich gelegentlich mit tonmalerisch ausgekostetem Naturerleben verbindet. Doch ob Chopins Nocturnes, Griegs Elegische Stücke, Mahlers Titan, Smetanas Moldau oder Bernsteins Maria – romantisch kann vieles sein. »KLASSIK heute« hat vier ausdrücklich als „romantisch“ bezeichnete Sinfonien aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen und Epochen ausgesucht, um das Musikalisch-Romantische genauer zu ergründen.

Anton Bruckner (1824–1896)

Es ist bemerkenswert, dass keiner der bekannten frühromantischen Meister wie Schubert, Schumann, Mendelssohn oder Weber eine Sinfonie namentlich als „Romantische“ bezeichnete. Ausgerechnet Anton Bruckner, dessen Stil man mehr oder weniger treffend gründerzeitlich monumental, sakral-religiös, klassisch-absolut oder mystisch genannt hat, blieb die Komposition der ersten bekannten „Romantischen“ vorbehalten. So nannte er 1874 seine vierte numerierte, aber an sich sechste Sinfonie in Es-Dur – nicht nur des Hornsolos zu Beginn, sondern auch etlicher romantischer Sujets wegen, die darin abgehandelt werden. Bei den späteren Umarbeitungen (1878 bis 1888) komponierte er zwar ein ganz neues Scherzo, „welches die Jagd darstellt“, und auch ein neues Finale, doch zugleich verlor das Werk dabei viel von seinem romantischen Überschwang zugunsten eines eher philosophisch-übernatürlichen Tonfalls. Dennoch hat sich Bruckner an mehreren Stellen ganz eindeutig zu den programmatischen Inhalten geäußert. Leider wird er bis heute so sehr als „absoluter“ Komponist betrachtet, dass die meisten Interpreten diese Äußerungen als nicht in ihr Bild passend abtun. Wohl auch deshalb wird die wahrhaft „romantische“ Erstfassung von 1874 kaum beachtet, die hier gerade aus diesen Gründen herangezogen wird.

Charles Tournemire (1870–1939)

Charles Tournemire ist leider noch kaum bekannt. In seinen acht Orchester- und zwei Orgelsinfonien entfaltet sich eine Tonkunst, die an Einfallsreichtum, Farbigkeit und Faktur als Gesamtwerk das Schaffen aller spätromantischen französischen Sinfoniker (Chausson, Franck, d’Indy, Lazzari, Magnard, Ropartz, Roussel, Saint-Saëns, Vierne, Widor etc.) hinter sich läßt. Tournemire war von 1898 bis zu seinem Lebensende Organist an der Basilika Sainte-Clotilde und ab 1921 Professor am Pariser Conservatoire. Seine Romantische Sinfonie A-Dur op. 18 entstand im Jahr 1900. Der Untertitel ist retrospektiv und zukunftsweisend zugleich. Dieser himmelsstürmende, knapp halbstündige Erstling faßt die romantischen Ideen des 19. Jahrhunderts noch einmal zusammen und legt zugleich den Grundstein für den Fortbestand der Gattung Sinfonie in Frankreich, die entgegen vieler Unkenrufe bis heute nicht wirklich totzukriegen ist. Das viersätzige Werk wurde am 10. März 1901 in Marseilles uraufgeführt und reflektiert schon die Einflüsse, die Tournemire lebenslang beschäftigen sollten – er war wie Satie an der Mystik der Rosenkreuzer interessiert, suchte wie Scriabin nach dem Göttlichen in Mensch und Natur, widerstand in der stets tonalen Tonsprache einerseits allzu modernen Einflüssen, förderte aber andererseits den jungen Olivier Messiaen und war auch der asiatischen Musik, der Polytonalität und -rhythmik nicht abgeneigt.

Howard Hanson (1896–1981)

Howard Hanson war als langjähriger Gründer und Leiter der bekannten Eastman-Rochester School of Music ein eigentümlicher, lebender Widerspruch zwischen Fortschrittsdenken und extremem Konservativismus und somit geradezu ein Prototyp des modernen Amerikaners. Als Dirigent formte er ein Schulorchester von Weltniveau, das viele neue Werke amerikanischer Komponisten bestellte und uraufführte; sein rigoroses, doktrinäres Unterrichtssystem war jedoch aus heutiger Sicht eine Katastrophe. Als Komponist von sieben Sinfonien und vielen anderen Werken setzte er auf eine Erneuerung der Romantik. „Der Untertitel meiner zweiten Sinfonie spiegelt für mich eine definitive, bewußte Begrüßung der Romantik wider. Natürlich erkenne ich, dass der Romantizismus nurmehr ein Stiefkind der Gegenwart ist, ohne die gesellschaftliche Verankerung seines großen Bruders Neoklassizismus. Dessen ungeachtet umarme ich die Romantik umso heftiger, denn wie ich glaube, wird der Romantizismus in diesem Land reichen Boden für eine neue, frische und üppige Ernte finden.“ Als Hanson dies 1930 anläßlich der Bostoner Uraufführung seiner zweiten Sinfonie unter Sergej Koussewitzky schrieb, war die amerikanische Musik noch auf der Suche nach der eigenen Identität. Doch Hanson hatte seinen amerikanisch-romantischen, unverwechselbaren Personalstil schon gefunden, der von den Experimenten eines Ives oder Copland völlig unberührt blieb und daher durchaus anachronistisch wirkt.

Carlos Chávez (1899–1978)

Der große mexikanische Komponist schrieb insgesamt sechs Sinfonien. Seine dreisätzige Romantische ist wie bei Bruckner die vierte Sinfonie, entstanden als Auftragswerk des Louisville Orchestra im Jahr 1953. Sie markiert nach der Auseinandersetzung mit dem griechischen Drama in der Sinfonia de Antigona (Nr. 1, 1933) und mit indianischer Musik in der berühmten Sinfonia India (Nr. 2) die mittlere Schaffensphase, in der Chávez die Einflüsse der europäischen Sinfonik durcharbeitet. Die kraftvolle, viersätzige Dritte handelt höchst originell die Klassik ab, die Vierte die Romantik. Chávez wird nach wie vor als Nationalkomponist verkannt; bis heute existiert lediglich eine einzige Gesamteinspielung seiner Sinfonien, die nicht minder bahnbrechend sind als die Werke etwa von Barber, Bernstein, Cage, Crumb, Copland, Diamond oder Ives. Chávez zählt zu den wenigen Sinfonikern, die ihre Werke aus dem organischen Zusammenwachsen von kleinen Motiven mauerfest zusammenfügen – wie zum Beispiel auch Bruckner, Sibelius und Honegger. Er selbst bezeichnete seine Formanalysen als „anatomisch“. Dass dies kein Widerspruch zur Idee des Romantischen sein muß, zeigt seine Vierte ebenso nachdrücklich und persönlich wie die Vierte von Bruckner.

Grundzüge der Romantik und musikalischer Ausdruck

Wenn man benennen möchte, welche Musik besonders „romantisch“ anmutet, kommen einem Elemente wie die lautmalerische Schilderung von Naturerlebnissen, die Darstellung von Gemütszuständen (Sehnsucht und Melancholie, Liebesglut und Einsamkeit) in den Sinn. Eine häufig verwendete Metapher der Romantik ist das „Wandern“ als Ausdruck einer Seelenreise (Eichendorff; Schuberts Winterreise, Wagners Wotan); offenbar hat der romantische Ausdruck ursächlich mit menschlichen Bedürfnissen zu tun – der Selbstentfaltung in Gesang und Bewegung. Man denke an irgendein romantisches Werk: es gibt darin immer Naturschilderung, Stimmungsmalerei, Tanz und Gesanglichkeit. Sind nun die ausgewählten Sinfonien wirklich romantisch? Es gibt so etwas wie musikalische Fingerabdrücke, die etscheidend sind: Der Klang des Horns, der mit dem männlichen Stimmumfang korrespondiert; lautmalerische Darstellung der Natur; lyrische Passagen der Liebesglut oder Melancholie und bewegte, „swingende“ Tanzrhythmen.

Sehnsucht und Lebendigkeit

Die überraschende Erkenntnis dieser Untersuchung: Bruckners Romantische trägt ihren Beinamen zu Recht. Das Horn spielt eine wesentliche Rolle, nicht nur im hymnischen Thema des ersten Satzes, mit dem Bruckner nach eigenen Worten die Weise eines Turmbläsers darstellen wollte. In der gesamten Sinfonie wirkt das Horn wie ein einsamer Rufender. Im zweiten Satz gliedert der Hornruf das sehnsuchtsvolle(!) Thema der Celli bzw. Bratschen, welche übrigens auch männlich singende Instrumente sind. Wo besser als in dieser Sinfonie wird die organisch wachsende Natur von Bruckners Sinfonien deutlich, wenn dieses elegische Thema mit der gleichen Quinte abwärts beginnt wie der Ruf im ersten Satz? Auch das Scherzo beginnt in der Erstfassung mit dem einsamen Horn, herunter zur Quint und wieder herauf zum Grundton; das Prinzip von Frage und Antwort ist noch ausgeprägter, und schließlich weitet sich der Solohornklang zum mehrstimmigen romantischen Hymnus und zu heraldischer Größe. Das Horn war für Bruckner geradezu das Sinnbild der Romantik. Das zeigt auch seine Liebe zu Wagners Lohengrin mit seinen machtvollen Hörnerklängen im fulminanten Vorspiel, und noch kurz vor Lebensende bat er um ein Opernlibretto „à la Lohengrin, romantisch-mysteriös und frei von allem Unreinen“.

Ein Naturlaut ist für Bruckner auch das zweite Thema des ersten Satzes, das nach seinen Worten mit dem Vogelruf „zizibe“ beginnt. Tournemires Romantische beginnt „avec mystère“ und gleichfalls im Naturlaut, mit einem zur Quinte(!) absteigenden Motto der pastoralen Oboe, sogleich beantwortet vom einsam rufenden Horn, das wie bei Bruckner als Leitmotiv der ganzen Sinfonie fungiert; es folgen schmetternde Fanfaren als Hauptthema. Wiederum erklingt die Hornquinte im Scherzothema und zu Beginn des wie bei Bruckner Trauermarsch-artigen langsamen Satzes.

Hansons Romantische beginnt ebenfalls mysteriös und sehnsuchtsvoll, und dieser Anfang mündet in den Auftritt eines Solohorns mit Quinte abwärts, das Allegro-Hauptthema ist ein heraldischer Horn- und Trompetenruf, der zur Quinte hinabsteigt und die ganze Sinfonie prägt! Das Gesangsthema ist Hansons wohl bekannteste Melodie geworden: Dieser Inbegriff romantischer Sehnsucht wurde noch populärer durch die Verwendung in der Filmmusik zu Alien, und natürlich spielt das Horn stets einen prominenten Kontrapunkt. Die Rhythmik mit Duolen und Triolen (auch Thema des Mittelsatzes) ist übrigens sehr Brucknerisch, und die introvertierte Melancholie des langsamen Satzes steht dem zweiten Satz von Bruckners Sinfonie in nichts nach. „Melancholisch sein“ ist übrigens ein Ausdruck, der immer wieder in Bruckners Briefen auftaucht.

Wen wundert es nun noch, das auch Chávez’ Sinfonie, die mit der von Hanson Dauer und Form gemeinsam hat, mit einer naturhaften Einleitung beginnt? Da spielen immer wieder pastorale Oboen, Vogelrufe der Flöte und sehnsuchtsvolle Lieder wie das der Violinen und der Solotrompete eine Rolle. Als das Getümmel anwächst, hebt eine Soloposaune mahnend den Zeigefinger und spielt eine Tonleiter aufwärts, bis zur Quinte. Und im zweiten Thema kommt dann das Horn sehr beredt zu Wort. Der zweite Satz ist wieder ein introvertiertes Gesangsstück, „wie eine Arie der Geigen und Bratschen“, schrieb Chávez. Die Musik scheint keine Erfüllung zu finden, bis zum Ende wird die Sehnsucht nicht aufgelöst. Der Satz kulminiert in einem Thema gestopfter Hörner.

Alle vier romantischen Sinfonien kommen in ausgelassenen Rhythmen zu Ende, die kraftvoll lebensbejahend sind und viele verherrlichende Elemente in sich tragen. Chávez beginnt mit einem munteren Tanz der Klarinette, und die begleitenden kleinen Noten treiben den ganzen Satz voran. Etliche Schichten volksliedhafter Melodien überlagern sich, und das Thema des ersten Satzes kehrt zurück. Bruckner, bei dem schon das Scherzo ein einziger Tanz war, nannte sein Finale sogar treffend „Volksfest“. Nie wieder schrieb er einen rhythmisch derart gewagten Satz, der ganz von Quintolen durchzogen ist. Sie beginnen im zweiten Thema, das wie eine Tanzweise des Dudelsacks wirkt, und bringen die Sinfonie auch zum fulminanten Schluß, der an Debussys La mer erinnert (Debussy hat Bruckner 1894 in Wien kennengelernt!). Tournemire beginnt sein Finale allegro energico und ganz ähnlich swingend wie Chávez; auch Hansons letzter Satz hat kecke, energische Züge. Bruckners Titel „Volksfest“ beschreibt also treffend alle vier Finalsätze dieser – wie man schon aus den wenigen genannten Beispielen sehen kann – wahrhaft romantischen und begeisternden Sinfonien, in denen sich vier große Komponisten nachdrücklich zu dieser Ausdruckswelt bekennen.

Dr. Benjamin G. Cohrs

Einspielungen zum Thema

25.07.2011
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 / cpo

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