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ARD-Musikwettbewerb Ein Fenster zu... Kompass

Ein Fenster zu...

Giovanni Gabrieli

Hör-Tipps anhand von ausgewählten Werken

Zehn Posaunen, sechs Cornetti, sieben Chöre mit ebensovielen Orgeln, dazu diverse Streichinstrumente – die venezianischen Besucher des Festgottesdienstes in San Marco müssen geglaubt haben, das Weltall fange an zu klingen. Das Magnificat a 33 von Giovanni Gabrieli – sage und schreibe 33 Stimmen waren notiert – ist ein Höhepunkt der „cori spezzati“-Technik. Zwei oder mehrere Chöre alternieren bei dieser Satzart, die maßgeblich von Gabrielis Vorgänger an San Marco, Adrian Willaert, entwickelt wurde, imitieren sich, fallen sich ins Wort, vereinigen sich zu einer unglaublichen Klanggewalt. Schon Orlando di Lasso, mit dem Gabrieli in München musiziert hatte, arbeitete mit dieser Technik, und der junge Heinrich Schütz, der seinerseits bei Gabrieli studierte, entwickelte sie weiter.

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Bilder der Pracht und Innigkeit

Wie man erwarten kann, sind die akustischen Wirkungen der Mehrchörigkeit spektakulär. Doch das meint nicht automatisch, dass alle diese Stücke repräsentativ angelegt sind und nur nach außen wirken. Dulcis Jesu patris imago, eine Sonata con voce a 20, besitzt, obwohl sie drei Chöre zusammenführt, gemäß ihrer Textgrundlage einen sehr intimen Charakter: Sie ist eine direkte Anrede an Jesus, das „Bild des Vaters“, und eine Bitte um Erlösung. Schon die überraschende Betitelung des Stückes als Sonate, nicht etwa als Motette, zeigt, worauf es Gabrieli bei der Textvertonung ankommt: nicht auf seine bloße Deklamation, sondern eine Meditation über die zärtliche Anrede des süßen Jesu. Nur diese vier Worte werden – und das sind über zwei Drittel des ganzen Stückes! – immer wieder wiederholt. Schon das instrumentale Vorspiel ist ungewöhnlich lang und in sich geschlossen; nachdem ein weiches Klangfeld entworfen ist, wird ein rhythmisches Element eingeführt. Und der Einsatz der Singstimmen wird subtil vorbereitet: die beiden Instrumentalchöre lösen sich voneinander, antworten sich, schließen sich wieder zusammen und eröffnen so den Raum für die beiden Singstimmen. Diese nun spielen mit dem textlichen Bild des „Bild des Vaters“, drehen es gleichsam hin und her, um es zu betrachten, verlangsamen es, wie zum Beispiel eine Vergrößerung des vorher mit seinen Imitationen verschränkten Motivs zeigt. Dennoch nutzt sich diese Anrede des süßen Jesu nicht ab; das Motiv gewinnt durch ein emphatisches Neuansetzen frische Energie. Der „dulcis Jesu“ wird nicht im Textverlauf gezeigt, sondern er wird von verschiedenen Seiten betrachtet. Dadurch wird für Gabrieli das „Abbild Gottes“ zum musikalischen Bildnis.

Natürlich muß eine Aufforderung wie „Alle Völker, frohlocket mit Händen“ einem Komponisten der Mehrchörigkeit besonders in den Ohren geklungen haben. Tatsächlich dürften vier vollständige Chöre mit je vier Stimmen einen angemessenen Aufwand für das Textbild „alle Völker“ darstellen. Dennoch kostet Gabrieli in seiner Motette Omnes gentes die Vollzähligkeit geradezu aus; er läßt nicht alle Stimmen gleichzeitig einsetzen, sondern steigert die Wirkung noch dadurch, dass das Weltganze wie in einer riesenhaften Ausweitung erst allmählich in die Perspektive gerät. Gabrieli weiß, dass man sich an einen großen Apparat schnell gewöhnt und fährt ihn gleich nach dessen Vorstellung wieder zurück. Anschließend nutzt er die Aufteilung der Chöre im Raum und läßt sie miteinander kommunizieren. Zunächst sieht es so aus, als ob zweiter und vierter sowie erster und dritter Chor zusammengehören würden; diese beiden Einheiten rufen sich die Aufforderungen „plaudite, jubilate“ zu. Dann jedoch werden die Völker getrennt, wie etwa erst der dritte Chor und dann der zweite. Und es paßt gut, dass die vier Chöre aus den vier Himmelsrichtungen dann zusammengeführt werden, wenn wieder von den „populos“, den Völkern, die Rede ist. Durch das Bild der Gesamtheit der Völker zu Beginn ist die Kraft noch nicht verbraucht: Erst für das Schluß-Alleluja gebraucht Gabrieli in den Bässen den tiefsten Ton des Stückes, ein Kontra-B. So kann er die instrumentale Macht noch ungeahnt erweitern und eine überwältigende Schlußwirkung erreichen.

Improvisation mit Reprise

Anders als Orlando di Lasso und Heinrich Schütz, Lehrer und Schüler Gabrielis, ist von Gabrieli eine große Menge Instrumentalmusik erhalten. Diese besteht nun, wie vor allem die Canzonen aus der Sammlung Sacrae Symphoniae von 1597 zeigen, nicht etwa aus umgearbeiteten Vokalwerken, sondern ist genuin den Möglichkeiten der Instrumente angepaßt. Die Canzon septimi toni kombiniert diese typisch instrumentale Schreibweise mit den Errungenschaften der Doppelchörigkeit. Zum einen scheinen die vielen Themen, die sich die beiden Chöre zuwerfen, mit ihren Tonwiederholungen den Fanfaren der Trompeten abgehört. In die Doppelchörigkeit projiziert, kann nun zum anderen immer ein Chor eines dieser Themen wie aus dem Stegreif anstimmen, einem guten Vorschlag ähnlich, und der jeweils andere Chor nimmt ihn auf. Obwohl also der Eindruck einer kollektiven Improvisation entsteht, sind diese Themen ineinander verzahnt; dem lyrischen Thema entspricht die feierliche Episode, und schließlich kommt es zu einer regelrechten Reprise des Eingangsgedanken: Diese nicht einmal drei Minuten Musik wirken geschlossen wie ein Sinfoniesatz.

Abschreitungen des Raumes

Es ist kein Wunder, dass diese klare Aufteilung mehrerer Klangquellen im Raum besonders interessant für die stereophone Aufnahmetechnik der Schallplattenindustrie der 1960er Jahre war. So spektakulär die Doppelchörigkeit auch sein kann, sie kann auch, wie etwa in der Motette O Jesu mi dulcissime aus den Symphoniae Sacrae von 1615, zu innigsten Wirkungen benutzt werden. Am Anfang dieser Motette steht ein bloßer g-moll-Klang des ersten Chores, der durch einen fast unmerklich hinzutretenden Ton vervollständigt wird. Die Anrede, wiederum an den „süßesten Jesu“, wird aus einem reinen Klang entwickelt. Das ist das Prinzip, nachdem auf die Worte O puer dilectissime („O geliebtester Knabe“) fast unmerklich der zweite Chor eingefädelt wird: Ein einzelner Tenorton schleicht sich in die Kadenz des Chores I, die anderen Stimmen treten dazu, der Übergang von einer Seite zur anderen vollzieht sich sanft, der Raum wird sozusagen in einer weichen Bewegung abgeschritten. Die beiden Chöre wettstreiten hier nicht, sondern ergänzen sich, wenn etwa wiederum eine Anrede („rex piissime“, „heiligster König“) durch den mild dazutretenden zweiten Chor unterfüttert wird, oder die beiden Chöre bei ihrem Motiv auf „adoramus te“ („wir beten dich an“) so eng geführt werden, dass sie sich fast zu umarmen scheinen. Schon für sich allein genommen, ist die tiefe Setzweise jedes Chores darauf angelegt, weiche und volle Klanglichkeit zu produzieren, aber wenn sie, wiederum zur Unterstreichung des Wortes „Christus“, zusammengeführt werden, stellt sich eine ungeahnte Ausfüllung des Gesamtraumes ein, die nicht anders denn als Erhöhung bezeichnet werden kann.

Ausgerechnet das wohl am eindrucksvollsten besetzte Werk Gabrielis, das bereits in der Einleitung erwähnte Magnificat a 33, wurde nur unvollständig überliefert; eine Grazer Handschrift besteht nur aus zehn Stimmen. Doch eine Rekonstruktion ist möglich, weil eine auf 17 Stimmen reduzierte Fassung existiert; Roland Wilson hat eine solche Wiederherstellung unternommen. So hört man sieben Chöre, vokale und instrumentale, von links und rechts, aus der Tiefe des Raumes. Trotz der Masse ergibt sich kein Klangdickicht, da Gabrieli die Chöre sozusagen leicht balanciert und einzelne Gruppen hervortreten läßt, um das Tutti dann wieder neu einsetzen zu lassen: Der zweite Chor (Altist und vier Posaunen) zeichnet als erster leise die „Demut der Magd Gottes“ nach, dann folgt der vierte Chor, der mit einem einzelnen Tenor und intimen Streichern einen klanglichen Eindruck der Barmherzigkeit Gottes („Misericordia“) gibt. Der außergewöhnliche Aufwand an Mitteln wird nicht nur, wie in der Schlußentwicklung, dazu benutzt, das Weltall zum Klingen zu bringen. Gabrieli schafft sich vielmehr die Mittel, einen an unterschiedlichen Bildern reichen Text mit ungeahnter Differenzierung sozusagen dreidimensional in den Raum zu projizieren.

Prof. Michael B. Weiß

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01.09.2001
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Musik für San Marco in Venedig / deutsche harmonia mundi
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