Piraten!
Berlioz • Gilbert & Sullivan • Ravel • Bellini
Der Wind bläht die Segel, stolze Schiffe recken die Masten, gehen im Kanonengefecht in Rauch auf und würdevoll unter; verwegene Helden wie Captain Morgan, Francis Drake, Gregg, Vallo oder Surcouf bezwingen unerschrocken Meere und schöne Frauen – kein Zweifel: zumindest auf der Leinwand zählen die Piraten zu den faszinierendsten Helden. In der klassischen Musik sind sie seltener, aber auch zu finden. Zahlreiche Bühnen- und Konzertstücke befassen sich mit diesen rauhen Gesellen. Am bekanntesten ist wohl Wagners Fliegender Holländer geworden, in deren Mittelpunkt die Liebe des verfluchten Kapitäns zur Erlösung verheißenden Senta steht. »KLASSIK HEUTE« stellt abseits von Wagner vier ganz unterschiedliche, vergleichsweise unbekannte Vertonungen von Piraten-Sujets vor.
- Berlioz: Le Corsaire op. 21 (1844)
- Gilbert & Sullivan: The Pirates of Penzance (1879)
- Ravel: Daphnis et Chloë (1909-1912)
- Bellini: Il Pirata (1827)
Vincenzo Bellini (1801–1835)
Die Oper Der Pirat war die dritte des jungen Vincenzo Bellini. Die Uraufführung am 27. Oktober 1827 bedeutete seinen Durchbruch; der gefeierte Komponist starb nur acht Jahre später. Il Pirata ist kühn und modern. Im Todesjahr Beethovens gelang Bellini eine psychologische wie kompositorische Meisterleistung, die dem Genie seines Zeitgenossen Berlioz in nichts nachsteht. Auch das Libretto war brandaktuell: Erst 1826 war die Bühnenvorlage Bertram, ou le Pirate von Isidore J. S. Taylor in Paris aufgeführt worden – wiederum nach einer Vorlage, Bertram, or the Castle of St Aldebrand des Iren Charles Robert Maturin (1816). Das Stück begeistert bis heute durch seine einmalige Durchdringung von Naturschilderungen, revolutionär-philosophischem Gedankengut und natürlich die unglückliche Liebesgeschichte zwischen Piratenkapitän Gualtiero und Herzogin Imogene, die inzwischen mit Gualtieros Erzfeind Ernesto verheiratet ist.
Hector Berlioz (1803–1869)
1844 fristete Berlioz sein Dasein als Kritiker und lamentierte frustriert: „Aber ewig zu Feuilletonisieren um des Geldes willen! Nichtigkeiten über Nichtigkeiten zu schreiben! Unerträglichen Abgeschmacktheiten lauliches Lob zu spenden! Heute abend von einem großen Meister und morgen von einem Simpel mit demselben Ernst in derselben Sprache zu reden! Seine Zeit, seinen Verstand, seinen Mut und seine Geduld an diese Arbeit zu vergeuden, mit der Gewißheit, nicht einmal der Kunst dienen zu können (...) O, das ist der Gipfel der Erniedrigung!“ Nicht einmal ein spontan organisiertes Musikfest zur Pariser Industrieausstellung konnte Berlioz aufheitern, obwohl er immerhin ein ausverkauftes Konzert dirigierte und noch 800 Francs persönlichen Reingewinn erzielte. Gestreßt erkrankte er an Gelbsucht; sein Arzt verordnete Luftveränderung. Berlioz investierte seine 800 Francs in einen Urlaub in Nizza, wo er 1831 bereits die Ouvertüre Le Roi Lear geschrieben hatte – „und so nistete ich mich in einem Turm ein, der sich über dem Hause, an den Felsen von Les Ponchettes befindet.“ Ebendort schrieb er wieder eine Ouvertüre, die ganz von neu gewonnener Lebensfreude kündet und ursprünglich Der Turm von Nizza heißen sollte. Die mittelalterliche Atmosphäre, die „stets in der Sonne schlafenden alten Kanonen“ und die „frischen, lachenden Buchten, die mit Meeresalgen austapeziert sind“ inspirierten ihn dazu, alte Piratengeschichten zu lesen, insbesondere Der rote Korsar von James Fennimore Cooper. So nannte er die 1845 in Paris uraufgeführte neue Ouvertüre schließlich Der Korsar.
Gilbert (1836–1911) & Sullivan (1842–1900)
Das Dream-Team der englischen Operette, die Herren Sir William Schwenck Gilbert und Sir Arthur Seymour Sullivan, arbeiteten zwar gut zusammen, pflegten aber privat wenig Umgang. Zu verschieden waren sie, um Freunde werden zu können. Ihre Erstlingserfolge Trial by Jury (1875) und H.M.S. Pinafore (1878) wurden als Meisterwerke spritzigen britischen Musikhumors sogar in Amerika berühmt. Und so brachten sie ihr neues Stück The Pirates of Penzance gleich selbst am Broadway zur Uraufführung, an einem denkwürdigen Silvesterabend des Jahres 1879. Die Londoner mußten noch bis zum 3. April 1880 darauf warten. Die krude Geschichte dreht sich um den Piraten-Gesellen Frederick, der von seinem ältlichen Kindermädchen begehrt wird, sich aber selbst in die junge Mabel verliebt und natürlich prompt in Interessenkonflikte gerät. Das Sujet bot Gilbert & Sullivan reichlich Gelegenheit zu bissigen Seitenhieben auf viktorianische Spießigkeit und Polizeistaats-Mentalität, weshalb das Stück nach wie vor im englischsprachigen Raum sehr beliebt ist.
Maurice Ravel (1875–1937)
In der Rezeption geht die choreographische Sinfonie Daphnis et Chloë meist als arkadisches Liebesfresko durch. In der Tat handelt es sich aber um eine handfeste Piratengeschichte, die Ravel und Mikhail Fokin in den Mittelpunkt des Ballett-Geschehens hatten rücken lassen. In der Originalvorlage von Longos aus der Mitte des dritten Jahrhunderts ist diese Episode eher ein unwichtiger Teil vom Ganzen. Ravel reizte jedoch die Aufgabe als Ganzes: „Was mir vorschwebte, war ein ausladendes musikalisches Fresko, weniger archaisierend als voll Hingabe an das Griechenland meiner Träume (...) Mein Werk ist nach einem sehr strengen tonalen Plan sinfonisch gebaut, und zwar mittels einer kleinen Zahl von Motiven, deren Entwicklungen die sinfonische Homogenität des Werkes gewährleisten.“ Zweifellos ein kühner Plan, der in der Tat am 8. Juni 1912 unter Leitung von Pierre Monteux Ravels größtes Meisterwerk das Licht der Welt erblicken ließ. Auf das Sinfonische der Großstruktur legte Ravel umso mehr Wert, als Tscherepnins Ballett Narcisse et Echo ein Jahr zuvor ziemlich episodisch ausgefallen war. Leider wird das Stück bis heute im Konzertsaal selten als Ganzes gespielt. Zum Unglück hatte Ravel nämlich vor Beendigung des Gesamtwerkes bereits zwei Suiten zusammengestellt, die als reine PR-Maßnahme für den Verlag gedacht waren, sich aber leider im Konzertsaal verselbständigten – nicht zuletzt, weil die Sinfonie einen vokalisierenden Chor erfordert, der – in den Suiten durch Instrumente notdürftig ersetzt – ein zusätzlicher Kostenfaktor für jeden Veranstalter ist.
Freiheit auf den Meeren
Bei allen vier Werken spürt man, daß ihre Komponisten sich verführen ließen von Klischees: Piraten sind einerseits Außenseiter der Gesellschaft, werden aber andererseits gerade deshalb bewundert; das Befahren des unendlich weiten Ozeans bedeutet gleichsam eine Brüderschaft des Menschen mit der Natur. So sind zumindest drei dieser Piraten-Musiken gekennzeichnet von musikalischen Umsetzungen dieser romantisierenden Vorstellung. Sie wollen einerseits mit musikalischen Mitteln die Vorstellung von der elementaren Gewalt und Unermeßlichkeit des Meeres (Naturmalerei) erwecken und die überlegene Freiheit des Piratentums (Seefahrer-Lieder) schildern. Andererseits beschreiben die Piratenmusiken auch den Konflikt der Außenseiter mit der Gesellschaft, vor allem in Form von Bedrohung, Kampf, Raub, Sieg oder Untergang. All diese Aspekte sind in der zehnminütigen Ouvertüre von Berlioz auf das Schönste zusammengefaßt: Sie beginnt bildhaft mit behenden Tonleitern, bei denen man förmlich die Besatzung in die Masten klettern sieht. Verstärkt wird der Eindruck durch lebendige Einwürfe der hohen Holzbläser. Die Musik ist obenauf, wie Berlioz in seinem Turm in Nizza. Danach breitet sich eine ruhige Passage aus, die Beethovens Meeresstille und glückliche Fahrt andeutend zitiert und mit an- und abschwellenden Tönen das Auf und Ab der Wellen illustriert. Ein Paukenwirbel kündigt die Rückkehr der lebendigen Anfangsmusik an. Kämpferische Blechbläser greifen schmetternd in das Geschehen ein. Danach folgt ein Thema in der Art eines Matrosengesangs mit stampfenden Begleitrhythmen, das bald heldisch von den Trompeten aufgearbeitet wird. Berlioz stellt die Kontraste immer rascher gegenüber; die Musik spitzt sich zu, drängt vorwärts, beruhigt sich wieder, überschlägt sich übermütig und bekommt fast Filmmusikartigen Drive. Man sieht beim Hören dieser Musik Burt Lancaster (Der rote Korsar) förmlich vor sich!
Bellini beginnt seine Piraten-Ouvertüre mit Freiheitsklängen, gefolgt von einem Matrosenlied und ebenfalls bedrohlichen Bläser-Einwürfen. Danach schildert er mit Kriegsmusiken (Piccoloflöte, Schlagwerk, Blechbläser) die Seeschlacht zwischen Gualtiero und Ernesto, bei der die Piraten in die Flucht geschlagen werden. Schließlich braut sich ein Sturm zusammen, mit heftigen Ausbrüchen von Schlagzeug und Bläsern, bedrohlichem Tremolo der Streicher. Das Schiff wird förmlich von den Klangwellen zerrieben – eine der eindrucksvollsten Szenen der Operngeschichte! Während des Gebets eines Eremiten kann sich die Besatzung aber retten und wird von der Dorfbevölkerung in Empfang genommen. Im Übrigen beschränkt sich das Piratenhafte auf die Anfangsszene mit dem Schiffsuntergang; der Rest der Handlung konzentriert sich auf den Konflikt der Personen (Piratenkapitän, Herzog, Geliebte/Herzogin).
Raub, Kampf und Sieg
Bei Gilbert & Sullivan fängt die Ouvertüre mit einem fröhlichen Seemannslied an, in dem wie bei Berlioz die hohen Holzbläser mit ihren pfiffigen Einwürfen eine tragende Rolle spielen. Das eigentliche Geschehen beginnt mit Tanz, Gelächter und Kartenspiel der Piraten. Gleichwohl ist auffällig, daß die Autoren auf klangmalerische Meeresstimmungen völlig verzichten. Vielleicht verließ sich Komponist Sullivan zu sehr auf die Wirksamkeit britischer Sea-Songs, die er immer wieder diskret zitiert, die aber bei einem nicht-britischen Publikum unbekannt sind. Der Revue-Stil der Musik ist zündend, aber doch sehr beliebig. Wer nur die Musik hört, könnte ohne weiteres den Eindruck haben, in einer Jäger-, Arbeiter- oder Bettler-Oper zu sein. Für musikalische Piraten-Fans ist diese Operette eine echte Enttäuschung.
Auch bei Ravel ist kein Meer zu erleben. Gleichwohl spielt die Schilderung der Natur bei ihm eine zentrale Rolle, z.B. gleich zu Anfang, wenn die arkadische Landschaft mit dem Tempel der Nymphen in Klänge gemalt wird. Um so stärker wirkt die Bedrohung dieser Natur durch den Überfall der Piraten: Während Daphnis betört wird von Lyceion, der Nebenbuhlerin von Chloe, brechen die Piraten über Trommelwirbeln und mit einem signifikanten Trompetensignal über die ahnungslose Bevölkerung herein. Ravel zitiert hier übrigens ein Stück Meer-Musik, nämlich den Finalsatz von Rimsky-Korssakoffs Shéhérazade, in dem ebenfalls ein Piratenüberfall vorkommt. Daphnis muß ohnmächtig zusehen, wie Chloë entführt wird. Gott Pan und seine Nymphen versprechen zwar Rettung, doch zuvor schildert Ravel die Exzesse im Piratenlager. Die Piraten feiern eine wilde Orgie, tanzen Kriegstänze, streiten sich um die Beute. Immer wieder greift die Trompetenfanfare ein. Die Musik ist von einer ungeheuren Raserei, imitiert menschliches Keuchen und Stöhnen, das Klirren der Säbel und den Taumel in die Besinnungslosigkeit. Als alle übrigen schlafen, macht sich der Piratenhauptmann Bryaxis an Chloë heran, die versucht, ihrer drohenden Vergewaltigung mit einem flehenden Tanz in Fesseln und einem Appell an seine Ritterlichkeit zu entkommen. Klagende Oboen und Seufzerfiguren im Dreivierteltakt dominieren das Flehen der Chloë. Mehrmals gelingt es ihr, den Piraten abzulenken. Nachdem sich Bryaxis immer mehr an Chloës Hilflosigkeit geweidet hat, kommen schließlich Pan und seine Schattenkrieger Chloë in höchster Not zu Hilfe, entreißen sie dem Wüstling, entführen sie durch die Lüfte und legen sie dem am Bach schlafenden Daphnis an die Seite. Gilbert & Sullivans Piraten sind nicht nur allenfalls Möchtegern-Helden, sondern zu allem Überfluß sehr beliebig dargestellt. Bellinis Pirat ist eher ein unglücklich liebender Held denn ein Seefahrer. Berlioz zeichnet ein lebhaftes Bild vom Helden der Meere. Ravel gelingt eine überwältigende und psychologisch meisterhafte Schilderung der freibeuterischen Natur.
Dr. Benjamin G. Cohrs