Tod und Verklärung
Berlioz • Tiessen • Liszt • Strauss
Unausgesprochen folgen viele sinfonische Werke einer Dramaturgie, die einmal mit den berühmten Worten „Durch Dunkelheit zum Licht“ treffend beschrieben wurde. Manche setzen sich sogar explizit programmatisch mit dem Tod und dessen Überwindung auseinander. Das bekannteste dieser Werke ist wohl die sinfonische Dichtung Tod und Verklärung von Richard Strauss. »KLASSIK heute« stellt vier Kompositionen vor, die ein ähnliches Programm verfolgen.
- Berlioz: Symphonie Funèbre et Triomphale op. 15 (1830)
- Tiessen: Sinfonie Nr. 2 op. 17 ’Stirb und werde’ (1911/12)
- Liszt: Tasso. Lamento e Trionfo (1849)
- Strauss: Tod und Verklärung op. 24 (1889/90)
Hector Berlioz (1803-1869)
„Als im Jahre 1840 der Juli herankam, wollte die französische Regierung den zehnten Jahrestag der Revolution von 1830 festlich begehen“, erinnerte sich der Komponist. Der Innenminister beauftragte Berlioz mit der Komposition einer Sinfonie für die Zeremonie. „Ich glaubte, für ein Werk dieser Art sei der einfachste Plan der beste, und für eine Sinfonie, die (wenigstens zum ersten Male) im Freien gehört werden soll, eigne sich allein eine Menge von Blasinstrumenten.“ Die Trauerprozession wird von einem monumentalen Trauermarsch für Feldmusik begleitet; danach folgt „eine Art Grabrede oder Abschied, gerichtet an die erlauchten Toten“, und als Finale gibt es eine verklärende Apotheose, bei der schließlich ein Chor und seit einer späteren Umarbeitung der Symphonie funèbre et triomphale für den Konzertsaal auch Streichinstrumente hinzutreten. „Zum großen Glück hatte ich den Gedanken, eine zahlreiche Hörerschaft zur Hauptprobe der Symphonie einzuladen, denn am Tage der Feier selbst konnte man sie nicht beurteilen: ungeachtet der Macht eines solchen Orchesters von Blasinstrumenten hörte man uns, während der Zug marschierte, wenig und schlecht. (...) Auf dem weiten Platz der Bastille war es noch schlimmer: Auf eine Entfernung von 10 Schritt verstand man fast nichts mehr...“ Die anschließenden Konzertaufführungen waren jedoch sehr erfolgreich. Sie regten das Publikum sogar dazu an, mit seinem Beifall die Musik zu übertönen, denn es „kamen nach der Apotheose einige junge Leute auf den Einfall, die Stühle zu nehmen und mit Geschrei am Boden zu zertrümmern.“
Franz Liszt (1811-1886)
Auch Liszts Musik zu Goethes Torquato Tasso verdankt ihre Entstehung einem Jubiläum – den Feiern zum 100. Geburtstag von Goethe am 28. August 1849 in Weimar. Für die Gala-Aufführung des Dramas an diesem Tag komponierte der damalige Hofkapellmeister Liszt eine Ouvertüre und einen Festmarsch. Wie viele seiner Ouvertüren aus der Weimarer Zeit arbeitete er auch diese zwischen 1850 und 1854 zu einer sinfonischen Dichtung um, die er unter dem Titel Tassso. Lamento e Trionfo veröffentlichte. „Wir wollten diesen Gegensatz schon im Titel des Werkes klar aussprechen, und unser großes Bestreben ging dahin, in Tönen die große Antithese des im Leben verkannten, im Tode aber von strahlender Glorie umgebenen Genius zu schildern, von einer Glorie, welche mit vernichtenden Strahlen in die Herzen der Verfolger trifft.“ Zwischen den Teilen Leiden und Triumph fügte Liszt dabei noch ein Menuett ein, das an Tassos Leben am Hof von Ferrara erinnert. Dieser Ausdruck des im 19. Jahrhundert ausufernden romantischen Genie-Kultes macht es dem Stück heute schwer im Konzertleben: Es wird seltener aufgeführt, als man denkt.
Richard Strauss (1864-1949)
Es war das Jahr 1888, als in dem Weimarer Kapellmeister Strauss „der Gedanke auftauchte, die Todesstunde eines Menschen, der nach höchsten idealen Zielen gestrebt hatte, also wohl eines Künstlers, in einer Tondichtung darzustellen“ – so der Komponist später. An Erklärungsversuchen für diesen am 21. Juni 1890 in Eisenach uraufgeführten Geniestreich hat es nicht gefehlt, umso mehr, als Strauss der Partitur ein für heutiges Empfinden ziemlich abgeschmacktes Gedicht seines Freundes Alexander Ritter hinzugefügt hatte. Strauss selbst versuchte, dem rigoros einen Riegel vorzuschieben: „,Tod’ ist reines Phantasieprodukt – kein Erlebnis liegt zugrunde, krank wurde ich erst zwei Jahre danach. Ein Einfall wie ein anderer. Letzten Endes das musikalische Bedürfnis. Nach Macbeth (beginnt und schließt in d-Moll) und Don Juan (beginnt in E-Dur und schließt in e-Moll) ein Stück, das in c-Moll anfängt und in C-Dur aufhört.“ Nach der Wiener Erstaufführung urteilte der Kritikerpapst Eduard Hanslick prophetisch: „Die Art seines Talentes weist den Komponisten eigentlich auf den Weg des Musikdramas.“ Gleichwohl ist Tod und Verklärung ebenso unverkennbar sinfonisch wie der 40 Jahre früher am gleichen Ort entstandene Tasso von Liszt, dem diese Komposition einiges verdankt.
Heinz Tiessen (1887-1971)
Die Musik von Heinz Tiessen ist ungeachtet ihrer Promotion durch Dirigenten wie Nikisch, Furtwängler und Celibidache heute vergessen. Der Komponist verstummte nach dem zweiten Weltkrieg völlig: Die Hitler-Zeit hatte ihm alles genommen – Ehefrau, Geliebte, künstlerische Existenz. Richard Strauss hatte Tiessen übrigens einiges zu verdanken: 1917 holte ihn Strauss als Korrepetitor zu sich nach Berlin. Die Werke seiner ersten Schaffensperiode (1911-1917) fand Tiessen selbst „unproblematisch, melodisch, harmonisch und keineswegs kakophonisch (...), während sie vor 40 Jahren der konservativen Fachwelt – die der Musik von Reger und Strauss meist nur mit Mühe folgte – als Neutönermusik erschienen. Trotz mancher linearen Freizügigkeiten und Schritten ins Atonale zeigen sie unverkennbar die Tonsprache von Richard Strauss als stilistische Ausgangsstellung: kein Wunder, habe ich doch aus seinen Werken vom ,Don Juan’ bis zur ,Ariadne’ und seinen weisen und bescheidenen Worten am meisten gelernt.“ Dies gilt sicher besonders für die Sinfonie Stirb und werde, die schon im Titel an Tod und Verklärung anknüpft, wenn auch das Motto der „Seligen Sehnsucht“ von Goethe entliehen ist – womit sich eine Beziehung zu Liszts Vorbild einstellt. Nach der Uraufführung am 22. Mai 1914 unter Hermann Abendroth arbeitete Tiessen die Sinfonie noch einmal um. Mit der Uraufführung der zweiten Fassung am 18. Januar 1922 begann dann Hermann Scherchen sein Engagement für das gewaltige, weitgehend unbekannt gebliebene Werk.
Tod und Verklärung
Eine geistige Linie verbindet die vier Komponisten miteinander. Heinrich Heine erkannte schon 1837: „Liszt ist der nächste Wahlverwandte von Berlioz und weiß dessen Musik am besten zu exekutieren.“ Liszt hat etliche Orchesterwerke von Berlioz für Klavier bearbeitet und brillierte damit als Solist. Strauss’ erster Förderer und Gönner war der Liszt-Schüler und -Schwiegersohn Hans von Bülow, und Tiessen bekannte sich wiederum zu Strauss (siehe oben). So verwundert nicht, daß uns auch in den vier Werken zum Themenkreis ähnliche Mittel begegnen. In der Form sind alle explizit sinfonisch; sie unterlaufen jedoch durch ihre Anlage das viersätzige Formschema und betonen das dramatische Element. Sie sind im Prinzip dreiteilig angelegt, wobei der Mittelteil überwiegend zwischen dem Todes- und dem Verklärungsteil vermittelt. Die Sinfonie von Berlioz folgt am ehesten Klischees, wenn er auch das Kunststück fertigbrachte, mit dem Trauermarsch Gustav Mahler um 50 Jahre vorzugreifen (Kopfsatz der zweiten Sinfonie: Totenfeier). Die drei anderen Werke trennen Durchführung und Reprise kaum noch voneinander; für sie gilt mehr oder weniger das, was Tiessen hier stellvertrend für alle formulierte: „Das Motto ,Stirb und werde’ deutet keine formale Zweiteilung und Gegenüberstellung an, sondern – als Einheit – die unablässige Selbsterneuerung im Menschenleben. Die Symphonie will rein als Empfindungsstrom durchlebt werden, der durch Leidenschaften und Kämpfe zur Höhe des Lebens – zu Schmerz, Überwindung und Tod – und darüber hinaus wieder zum ewig weiterschreitenden Leben führt.“
Durchdringung der Themen
Auch bei Liszt sind die drei Teile noch nachvollziehbar gegliedert. Das Lamento beginnt in einer schmerzlichen, einstimmigen Kantilene, deren Gestus jeder italienischen Oper Ehre machen würde. Eine Oboe spielt die obligaten Seufzer-Figuren, und daraus entsteht eine in sieben Halbtönen absteigende Skala, hinab bis zum am weitesten vom Grundton entfernten Ton, dem berühmten Tritonus, genannt „Diabolus in Musica“. Aus dieser Einleitung entwickelt sich das aufbegehrende Hauptthema – eine wahre Höllenorgie, die neben Strauss auch Tschaikowsky (Francesca da Rimini) beeindruckte. Das zweite Thema (Soloklarinette) ist ein Trauermarsch mit finsteren Posaunen-Rhythmen. Ein trostvoller Nebengedanke mit Solo-Cello hat Strauss ebenso beeindruckt wie das einleitende Oboenthema: In Tod und Verklärung komponierte er aus diesen und anderen Ideen ein Thema, aus dem dann später das Verklärungsthema erwächst. Das von Liszt nachträglich eingefügte Intermezzo ist ein Menuett, besser vielleicht eine höfische Serenade, die genau wie bei Berlioz etwa in der Mitte des Werkes einsetzt. Auch dieses Thema der Celli mit seinem charakteristischen Oktavsprung aufwärts wird von Strauss in seinem Hauptthema zitiert! Fast unvermittelt bricht nach vier Minuten eine deutlich erkennbare Reprise des Hauptthemas aus, wodurch die Sonatenform gewährleistet wird – zumal auch das Lamento vom Anfang wiederkehrt. Dem schließt sich nach einer Generalpause zu Beginn der letzten Viertels des Werkes wie bei Berlioz das Finale mit Pauken und Trompeten an.
Strauss arbeitet bei etwa gleicher Länge und ähnlicher Anlage etliche Affekte stärker aus. Zugleich sind die Konturen verwischt. Umso wirkungsvoller prallen die Kontraste aufeinander: Streicher-Rhythmen wie zu Beginn des Adagios von Bruckners Achter pulsieren wie ein erschöpftes Herz; trauermarschartige Pauken erinnern an Wagners sterbenden Siegfried, in der klassischen Todestonart c-Moll, dem Gegenteil der Tonart des Lichts, C-Dur (deswegen war Strauss dies so wichtig). Der Sterbende begehrt ähnlich vehement gegen den Tod auf wie bei Liszt, woraus sich mit einem markanten Paukenschlag tosende Stürme entwickeln. Wo bei Liszt ein Intermezzo beginnt, reiht Strauss in mehreren Episoden Lebensrückblicke aneinander. Dabei setzt sich das Verklärungsthema immer stärker durch, wenngleich ständig durch Todeselemente vom Beginn bedroht, die sich ebenfalls immer heftiger austoben. Wieder beginnt im letzten Viertel des Werkes eine feierliche Prozession, findet dann aber zu himmlischer Ruhe.
Tiessen treibt die Durchdringung der Prinzipien Tod und Verklärung auf die Spitze: Schon die erste Themengruppe hat Trauermarsch-Elemente, Trommelwirbel, Todes-Posaunen, zerklüftete Unisoni – doch gleichermaßen vorwärtsdrängende Lebendigkeit. Wieder spielt dann die Oboe mit einem langen Thema eine ausführliche Rolle, schwankend zwischen Beklemmung und Süße. Es gibt auch ein einstimmiges Doloroso wie bei Liszt. Der ganze Komplex ist noch eine Überhöhung der lyrischen Welten von Liszt und Strauss (Streicher-Soli). Hier nun beginnt ein Kräftespiel, wie es Strauss im Mittelteil seiner Dichtung bereits angelegt hatte – nur umgekehrt: In die heile Welt brechen immer mehr und immer öfter zerstörerische Kräfte ein, zunächst in Form einer klagenden dritten Themengruppe, deren Elemente an den Anfang anknüpfen. Das zweite Drittel beginnt mit vehement vorantreibenden Pauken; Kampf und Überwindung heißt hier die Devise; das Hauptthema spielt eine große Rolle. In einem machtvollen Bläserchoral klingt das Verklärungsthema von Strauss hörbar an. Ziemlich genau in der Mitte ertönt erneut das Doloroso der Celli; wieder fängt ein Zyklus an. Das letzte Drittel beginnt nach einer Generalpause mit einem apokalyptischen Blechbläser-Thema, das an das Hauptthema anknüpft, es folgt wieder ein Marsch als Finale. Doch die Apotheose findet nicht statt! Das Hauptthema wird pathetisch zu Grabe getragen und erst im kurzen Schlußakkord ist die Grundtonart wieder erreicht. Man könnte die Sinfonie, ohne weiteres noch einmal spielen, und noch einmal... – ein ewiger Zyklus von Werden und Vergehen.
Dr. Benjamin G. Cohrs