Roger Norrington
Beethoven
SWRmusic 93.086
1 CD • 74min • 2002
06.08.2003
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Auf den paarweisen Bezug zweier aufeinanderfolgender Sinfonien weist nicht zuletzt die Tatsache, daß Beethoven selbst sie erstaufgeführt hat. Auch die Fünfte und Sechste bilden ein solches Paar, uraufgeführt in der Akademie am 22. Dezember 1808. Im Ausdruck könnten beide nicht gegensätzlicher sein. Doch folgen sie dem Typus der „Sinfonia Charatteristica“, wie Beethoven die Sechste sogar ausdrücklich benannt hat – eine Bezeichnung übrigens, die bis heute für Verwirrung sorgt (auch beim Booklet-Autor). Constantin Floros, Hartmut Krones und andere Forscher haben aber gezeigt, daß solche Instrumentalwerke einer charakteristischen Abfolge von dramatischen Szenen, nicht aber einem quasi literarischen „Progamm“ folgen. Dem wird Norrington hier in einzigartiger Weise gerecht: Nie hat man die Fünfte mit so viel Mut zum Risiko gehört!
Rücksichtslos wird der Kopfsatz vorangetrieben; auch wenn das Zusammenspiel mal aus den Fugen gerät wie gegen Ende, läßt einen der Impetus nicht los, und man erinnert sich wieder an den Beethoven, der mitunter seine Klaviere im Spiel wütend zusammengedroschen hat. Im Andante inszenieren wieder einmal Pauken und Trompeten markige Militärklänge, doch kontrastiert diese Strenge herrlich mit Passagen, in denen Norrington seinen Holzbläser völlig freie Hand läßt. Gegen Ende klingen die pastoralen Horngänge idyllisch von Ferne, gleich darauf der Schluß wie eine Apotheose des Menuetts: Drastischer kann man das Klaffen zwischen Bürger und Adel musikalisch kaum noch ausdrücken. Das gespentische Scherzo fegt die alten Zöpfe beiseite wie ein Wirbelwind; da wird nicht romantische Mystik heraufbeschworen, sondern da werden Revolutionäre, ihre Intrigen im Versteck, nächtliche Umtriebe, Hohn und Spott über die Verfolger aus den Reihen der alten Ordnung (im Fugato), schließlich hemmungslose Raserei der Menge (im Übergang zum Finale) geradezu opernhaft inszeniert. Die Fünfte klingt hier viel näher an Berlioz’ Symphonie Fantastique, als ich sie je gehört habe. Das Finale gerät Norrington zum vollständigen Triumph der Revolution, wie er zwar nicht realiter, wohl aber in Beethovens Fantasie stattfand – eine Utopie, die der Großteil der Bürger damals wohl nicht verstand bzw. vielleicht gar nicht verstehen konnte.
Die nachfolgende Pastorale ließe sich im Anschluß daran ohne weiteres deuten als Parodie einer gewissen Mentalität, die offenbar auch schon zu Beethovens Zeiten verbreitet war: Die ‘Mir ist alles egal, so lang es mir selbst gut geht’-Haltung. Der Bauer in seiner Idylle bleibt meist von den Stürmen der Revolution verschont; der Stadtflüchter ebenfalls. Im Booklet findet man konsequenterweise endlich einmal den richtigen Titel des ersten Teils: „Angenehme, heitere Empfindungen, welche bei der Ankunft auf dem Lande im Menschen erwachen.“ Und tatsächlich inszeniert Norrington weit mehr noch als 1987 den Beginn der Pastorale als einen Bilderreigen der unbändigen Lebenslust einerseits, des betulichen Verharrens andererseits. Doch nie wirkt die Musik spätromantisch verharmlost: Kleine Partikel gewinnen ungeahnte Bedeutung; der Klang blüht, die vorzüglichen Bläser- und Streicher-Solisten finden zu einem geradezu barocken, konzertierenden Stil, der einem plötzlich wieder Vivaldis Jahreszeiten in Erinnerung ruft. Der Bach klingt gottlob endlich einmal nicht wie der Rhein in der Sommerhitze; das Donnerwetter fährt in die Idylle des Dorftanzes drein wie der Leibhaftige, und der anschließende Dankgesang an die Gottheit entfaltet sich als majestätisches Hirten-Siziliano, gegenüber seiner früheren Auffassung von Roger Norrington wirkungsvoll im Tempo weiter zurückgenommen. (Schade, daß man das Finale der Schottischen Sinfonie, die Mendelssohn unverkennbar als Negativ-Image der Pastorale komponierte, nie in genau jenem Gestus hört, den Norrington hier vorführt). Ich hatte das große Glück, die Pastorale seinerzeit in der gleichen Besetzung live in Stuttgart zu erleben.
Die CD fängt die atemberaubende Spannung dieses anrührenden Abends kongenial ein – absolut phänomenal, Highlight dieses Zyklus und unabkömmlich für Beethoven-Fans!
Die Besprechungen des kompletten Beethoven-Zyklus:
- Sinfonien Nr. 1 und 2
- Sinfonien Nr. 3 und 4
- Sinfonien Nr. 5 und 6
- Sinfonien Nr. 7 und 8
- Sinfonie Nr. 9
Dr. Benjamin G. Cohrs [06.08.2003]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Ludwig van Beethoven | ||
1 | Sinfonie Nr. 5 c-Moll op. 67 | 00:33:29 |
5 | Sinfonie Nr. 6 F-Dur op. 68 für Orchester (Pastorale) | 00:40:38 |
Interpreten der Einspielung
- Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR (Orchester)
- Sir Roger Norrington (Dirigent)