harmonia mundi HMC 901714.16
3 CD • 3h 08min • 2000
01.12.2000
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Das macht harmonia mundi France zur Zeit keiner nach: Die Gesamteinspielung einer unbekannten Oper eines Komponisten, der vom 19. Jahrhundert zum Kleinmeister abgestempelt wurde, obwohl er zu Lebzeiten einer der erfolgreichsten deutschen Musiker war; ein sehr ausführliches Beiheft, dessen Sorgfalt in der Detailgestaltung Kompetenz und Hingabe erkennen läßt; und eine Preisgestaltung (drei CDs zum Preis von zweien), die glaubhaft macht, daß es der Firma um die Sache geht.
Dieses Engagement hat sich gelohnt: Wieder einmal konnte René Jacobs ein abendfüllendes Werk dem Dunkel der Archive entreißen, welches durch die Qualität seiner Stilvielfalt ebenso überzeugt wie durch die Flexibilität, mit der es die Gattungskonventionen den jeweiligen musikalischen und lokalen Bedürfnissen anpaßt. In seinem Croesus zeichnet der einstige Chef der Hamburger Oper am Gänsemarkt, Reinhard Keiser (1674-1739), keine heroischen Psychogramme; vielmehr schafft er es, der moralischen Geschichte vom legendär reichen König, der erst durch einen tiefen Sturz zur Einsicht in die wahren Werte kommt, durch die Ausgestaltung von teils tragischen, teils derb komischen Nebenhandlungen ihren erhobenen Zeigefinger zu nehmen.
Diese Relativierung der erhabenen Stoffe und der großen Gefühle scheint den Heutigen wieder mehr zu sagen als dem Bildungsbürgertum früherer Generationen. Deshalb scheut Jacobs sich auch nicht, konträre Facetten dieser Oper plastisch herauszuarbeiten. So hört man hier eine Vielfalt von Stimmungen, die von einem exzellenten Solistenensemble bis ins letzte Detail ausgelotet werden. Allen voran muß hier Dorothea Röschmann genannt werden, die ihre Bravourarien mit einer fabelhaften Koloratursicherheit meistert; doch auch die Titelpartie und die des obligatorischen Gegenspielers (Orsanes) werden von Werner Güra und Klaus Häger souverän präsentiert.
Einen entscheidenden Beitrag zu dem sehr erfreulichen Gesamteindruck leistet die Akademie für Alte Musik Berlin, die unter Jacobs Leitung sehr einsatzfreudig agiert und die Dramatik des Stückes bis ins letzte ausreizt. Wie bei diesem Dirigenten nicht anders zu erwarten, hat Jacobs öfters in den Notentext eingegriffen und einige Passagen umgeschrieben; Puristen mögen dagegen Einwände haben, über die Jacobs sich allerdings als sehr selbstbewußter Opernpragmatiker einfach hinwegsetzt.
Was letztlich zählt, ist die Tatsache, daß mit dieser Produktion Hamburgs Barockoper eine großartige Ehrenrettung erfährt. Keiser erscheint nunmehr nicht bloß als Katalysator Händels, sondern als ein Komponist mit einem dezidierten Gestaltungswillen. Sein Croesus hilft überdies, Telemanns Hamburger Bühnenwerke besser zu verstehen und das spezifisch Norddeutsche der Opernwelt genauer in den Blick zu nehmen.
Dr. Matthias Hengelbrock [01.12.2000]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Reinhard Keiser | ||
1 | Croesus (Gesamtaufnahme in deutscher Sprache) |
Interpreten der Einspielung
- Dorothea Röschmann (Ein junger Hirt - Sopran)
- Werner Güra (Tenor)
- Markus Schäfer (Scipione - Tenor)
- Roman Trekel (Bariton)
- Johannes Mannov (Bariton)
- Klaus Häger (Baß)
- RIAS-Kammerchor Berlin (Chor)
- Knabenchor Hannover (Chor)
- Akademie für Alte Musik Berlin (Kleines Orchester)
- René Jacobs (Dirigent)