Roger Norrington
Bruckner
SWRmusic 93.219
1 CD • 52min • 2007
13.11.2008
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Die Quellenlage ist nur scheinbar eindeutig. Zwar stellt die „Sechste“ Bruckners erste Sinfonie dar, die sich der wohl skrupulöseste Komponist seiner Zeit nach Vollendung der Partitur (am 3. September 1883 in St. Florian) nicht erneut vornahm, doch wo der Meister keine Notwendigkeit für eine weitere Fassung sah, werkelten seine Schüler – allen voran Franz Schalk – an der Erstausgabe herum. So wurden in Schalks posthumem Druck der Partitur gerade die erhellenden Metronomangaben von Bruckners Vertrautem Cyrill Hynais, die dieser im Autograph ergänzt hatte, einfach weggelassen: eine Animosität unter Jüngern. Die Folge waren genau jene Tempo-Modifikationen bzw. Verschleppungen, wie sie noch heute bisweilen üblich sind.
Damit räumt diese Aufnahme mit dem SWR-Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter Roger Norrington gründlich auf. Nicht nur, dass hinsichtlich Musikeranzahl, Orchesteraufstellung, Bogenführung der Streicher, Phrasierung und Artikulation ein möglichst originalgetreues Klangbild erreicht wird, gerade das zügige Tempo des Finales folgt den ursprünglichen Intentionen Bruckners aufs Genaueste. Freilich hatte dies schon Wilhelm Furtwängler anno 1943 – noch ohne den entsprechenden Partiturbeleg – instinktiv erkannt. Hinsichtlich editorischer Genauigkeit lässt sich der vorliegende Live-Mitschnitt nicht mehr toppen: Hier wurde die Edition der „Sechsten“ innerhalb der kritischen Gesamtausgabe von 1952 einem abermaligen Abgleich mit dem Manuskript unterzogen. Tatsächlich traten einige kleinere Fehler zutage…
Musikwissenschaftliche Genauigkeit und geistvoll-transzendentes Musizieren müssen einander nicht ausschließen, – nur leider ist der verdienstvolle Sir Roger Norrington der Gefahr, genau diesen Eindruck zu erwecken, (abermals) nicht völlig entgangen. Seit 1998 amtiert er als Chefdirigent des Stuttgarter Rundfunkorchesters und hat in diesen zehn Jahren einen höchst präzisen wie flexiblen Klangkörper geschaffen. Toll, wie druckvoll die für Bruckners Steigerungstechnik stets so charakteristischen Sechzehntel-Umspielungen von allen Instrumentengruppen vorgetragen werden. Wohltuend, wie die gestrafften Temporelationen einem übertrieben weihevollen Charakter gerade da vorbeugen, wo Bruckner dezidiert weltlich gedacht hat.
Und dennoch wirkt die angenehm entschlackte Gesamtarchitektur der Sinfonie, das sonst evidente Zusammenwirken der vier Sätze, ihre Dramaturgie seltsam unentschlossen und – schlimmer noch – erschließt sich gerade deswegen dem Hörer nicht wirklich. Halten zu Gnaden: Aber darf man vom Mann am Pult nicht verlangen, dass sinnfällig wird, worauf er mit der im Orchester erzeugten Rhetorik hinaus will, worin sozusagen der „Mehrwert“ des bloßen Klangereignisses besteht, was im Zuhörer ausgelöst werden soll? Erst dann entsteht aus Tönen Musik. Alles andere bleibt im trockenen Buchstabieren von Noten stecken – so brillant es auch sein mag. Mancher nähme gewiss das eine oder andere editorische Malheur in Kauf, wenn neben dem Gehirn auch noch Herz und Seele in Schwingung versetzt würden.
Richard Eckstein [13.11.2008]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Anton Bruckner | ||
1 | Sinfonie Nr. 6 A-Dur WAB 106 |
Interpreten der Einspielung
- Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR (Orchester)
- Sir Roger Norrington (Dirigent)