Opera Rara ORC36
2 CD • 2h 02min • 2007
13.05.2008
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
In der neueren Donizetti-Forschung besteht Einigkeit darüber, dass der Komponist mit seiner 30. Oper, Anna Bolena (1830), seinen eigenen Stil gefunden hat und ins Stadium seiner völligen künstlerischen Reife getreten ist. Das nur wenige Monate zuvor entstandene, angeblich in nur wenigen Tagen heruntergeschriebene Melodramma Imelda de’ Lambertazzi wird dagegen in der einschlägigen Literatur kaum – und wenn, dann nur mit ein paar abschätzigen Sätzen nebenbei – erwähnt. Der Biograph William Ashbrook war wohl der erste, dem es auffiel, dass es sich bei dieser Oper um ein originelles, zukunftweisendes Werk handelt. Eine konzertante Rundfunk-Aufführung aus der Italienischen Schweiz unter Marc Andreae (1989), die einer Ausgrabung gleichkam und bei Nuova Era auf CD veröffentlicht wurde, bestätigte diese Einschätzung. Jetzt hat Opera Rara nachgelegt und eine Einspielung herausgebracht, die nicht nur die Qualität der Musik unter Beweis stellt, sondern zugleich ein Beispiel gibt, wie man Donizetti nicht nur als Komponisten, sondern auch als wegweisenden Musikdramatiker zur Kenntlichkeit bringen kann.
Nur wenige Monate nach der Romeo und Julia-Vertonung seines Rivalen Bellini (I Capuleti e i Montecchi) gestaltete Donizetti mit der Imelda eine Variante des unsterblichen Stoffes. Sein Librettist Andrea Leone Tottola erzählt vor dem Hintergrund des historischen Kampfes zwischen den papsttreuen Guelfen und den kaisertreuen Ghibellinen im 13. Jahrhundert die Geschichte einer Familienfehde, die das Glück zweier Liebender zerstört. Der Guelfe Bonifacio Geremei, mit der Tochter seines Feindes Orlando de’ Lambertazzi heimlich verbunden, wird von Lamberto, dem Bruder der Geliebten, mit einem vergifteten Schwert getötet. Imelda saugt das Gift aus seiner Wunde und vereint sich mit ihm im Tode. Der unversöhnliche Vater verstößt die Sterbende. Ein Melodram, das Elemente von Verdis La forza del destino vorwegnimmt und für eine Oper der romantischen Ära ungewöhnlich realistisch ist. Neben der nie versiegenden Fülle melodischer Einfälle beeindruckt die kluge Ökonomie des Werkes, in dem sich Arien und Ensembles wirksam abwechseln. Doch auch der traditionelle Aufbau der Soloszenen – Szene, Arie und Cabaletta – wird mit dramatischem Sinn erfüllt. Donizetti rückt deutlich ab von der oft selbstzweckhaften Virtuosität in Rossinis Sänger-Opern und weist an vielen Stellen auf das neue Musiktheater Verdis voraus. Daß der Liebhaber ein Bariton ist, sein Widersacher aber Tenor – übrigens keine Seltenheit in Donizetti-Opern! – hat sicher keine vokaldramaturgischen Gründe. Für die Premiere in Neapel am 5. September 1830 stand Antonio Tamburini zur Verfügung, der bedeutendste italienische Bariton seiner Zeit, der entsprechend seinem Range bedient werden sollte.
„Italienische Opern müssen entzündet werden, sie spielen sich nicht einfach von selbst“, behauptet der Dirigent der vorliegenden Aufnahme, Mark Elder. Und wie man eine Oper wie Imelda de’ Lambertazzi entzündet und zum Glühen bringt, führt er mit dem auf historischen Instrumenten spielenden Orchestra of the Age of Enlightenment exemplarisch vor. Für dieses Ensemble, das - wie schon der Name sagt - eigentlich auf die Musik der Aufklärungszeit spezialisiert ist, war das romantische Melodramma Donizettis durchaus ein Abenteuer, aber die Neugier, Kreativität und große Könnerschaft der Musiker hat zu einem wahrhaft erleuchteten und erhellenden Resultat geführt. Man hört hier Donizetti gleichsam ganz neu. Das liegt an einem aufgerauhten Klang, aus dem die Solo-Instrumente und Instrumentengruppen mit ungewöhnlicher Schärfe heraustreten. Elders Dirigat hat einen unerhörten Drive, ist rhythmisch sehr prägnant, verfügt aber auch über den weiten Atem, den eine Belcanto-Oper verlangt. Die Sorgfalt, die auf die Arbeit mit dem Orchester verwandt wurde, wurde offensichtlich auch den Sängern zuteil. Ich erinnere mich nicht, in den letzten Jahren eine italienische Oper so textbezogen und dramatisch durchpulst gesungen gehört zu haben. Obwohl es sich um eine Studio-Aufnahme handelt, die einer konzertanten Aufführung vorausging, vibriert die Produktion vor theatralischer Spannung. Allerdings stehen auch die geeigneten Sänger zur Verfügung. Nicole Cabell (Imelda) ist eine vor dramatischer Energie berstende lyrische Sopranistin von außerordentlicher Stimmqualität, die vor allem im Zusammenspiel mit dem ihr in jedem Belang ebenbürtigen Tenor Massimo Giordano (Lamberto) Erinnerungen an Auftritte von Maria Callas und Giuseppe di Stefano wachruft. James Westman (Bonifacio) steht mit hellem, kernigem Bariton nur wenig hinter ihnen zurück. Erstklassig besetzt sind auch die kleineren Partien: die Vaterrolle des Orlando mit dem erfahrenen Belcanto-Tenor Frank Lopardo, dessen Gefolgsmann Ubaldo mit dem klar artikulierenden Bass Brindley Sherratt.
Man wünscht sich von diesem Team noch weitere Aufnahmen italienischer Opern (nicht nur Donizettis), aber noch wichtiger wäre, dass ihr paradigmatischer Interpretationsansatz auch anderswo Schule macht.
Ekkehard Pluta [13.05.2008]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Gaetano Donizetti | ||
1 | Imelda de' Lambertazzi (Melodramma tragico in zwei Akten) |
Interpreten der Einspielung
- Frank Lopardo (Orlando Lambertazzi, Magistrat von Ghibelline Bologna - Teno)
- Nicole Cabell (Imelda, Orlando Lambertazzis Tochter - Sopran)
- Massimo Giordano (Lamberto, Orlando Lambertazzis Sohn - Tenor)
- Brindley Sherratt (Ubaldo - Baß)
- James Westman (Bonifacio Gieremei, Führer der Guelphen - Bariton)
- Geoffrey Mitchell Choir (Chor)
- Orchestra of the Age of Enlightenment (Orchester)
- Sir Mark Elder (Dirigent)