OehmsClassics OC 649
1 CD/SACD stereo • 55min • 2009
23.12.2010
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Diese Aufnahme ist für mich ein Wunder, denn sie hat nachweislich ein solches vollbracht! Endlich begegnet mir Gustav Mahlers vierte Sinfonie so, dass sie (die Kleine, Feine, Zierliche, Naive, das Stück fürs Portefeuille der Reisedirigenten) aus dem Schatten des Höllengebirges heraustritt, unter dessen Gipfeln der vorherige Gigant ersonnen oder besser: empfangen ward. Sie, deren Position der anderen großen, zwischen Eroica und Schicksalskampf eingepferchten Vierten so sehr ähnelt, habe ich noch nie mit solcher Hingabe verfolgt, noch nie in all ihren filigranen, kammermusikalischen Verästelungen, ihren Haupt- und Nebenstimmen derart vergnügt miterlebt wie in dieser Interpretation – zumindest ist mir keine vergleichbare Darstellung erinnerlich, obwohl ich nun doch schon seit einigen Jahrzehnten vertraut-vertraulichen Umgang mit dem Komponisten pflege, der mir als einer der ersten nach Beethoven und Bruckner durch seine Sinfonik eröffnete, dass es mehr geben müsse als das, was man gemeinhin das irdische Leben nennt.
Wie haben nun aber Markus Stenz und das Gürzenich-Orchester Köln das Wunder vollbracht? Wie konnte diese Musik, die man ja schließlich trotz einer gewissen innern Ferne recht genau kennt, unversehens ihren ganz eigenen Charakter so überaus lebendig entfalten, dass man sie gar nicht mehr aus den Händen lassen möchte? Ich denke, dass der Dirigent das Werk zunächst einmal aus dem verführerischen Kontext – siehe oben – herausgelöst und tatsächlich als eine „eigene“ Welt betrachtet hat, eine Welt voller Formen und Figuren, deren individuelle Konstellation obendrein durch den hohen Anteil fabelhafter instrumentaler Soli besonders hervorgekehrt wird: Da kichert die Klarinette eben im richtigen Moment mit leiser Ironie, ohne albern herumzuplärren, und da schmilzt eine Gegenmelodie in den Violoncelli, ohne in kleistrigen Kitsch zu gerinnen. „Freund Hein“ mit seiner Fiedel, seltsamerweise gar nicht so holbeinig gestelzt wie sonst, streicht seinen Bogen zum fahlen Ländler, der in sich eine spiralförmige Steigerung nach oben durchläuft bis an jene Pforte, hinter der gleich das Ewigkeitsmotiv erklingen wird.
Dieses „ruhevolle“ Adagio bietet auf seinem Wege eine Menge verlockender Kunsthonigtöpfe. Und Markus Stenz vermeidet sie alle – was umso wunderbarer ist, als er nirgends aufs Tempo drückt, sondern nur ganz transparent spielen läßt, was da geschrieben steht. Jedes falsche Sentiment verflüchtigt sich in dieser kurzweiligen Unendlichkeit, und selbst der „große Moment“, das kolossale al fresco des Himmelstores, ist weder marktschreierische Sensationsmache noch versteckte oder gar abgewürgte Emotion, sondern ein „einmaliges Ereignis“: Begeisterung, Erwartung, gepaart mit einem leisen Staunen und gelinden Erschrecken vor dem, was da kommen soll ...
Ja, und dann besingt Christiane Oelze das „himmlische Leben“. In dieser Stimme, in diesen Phrasen, in diesen von Strophe zu Strophe unendlich gewandelten Nuancen steckt so viel an Liebreiz und feinstem Humor, dass alle dort droben versammelten Heiligen ihren jeweils ganz persönlichen, überaus dezenten Farbauftrag erhalten – bis schließlich St. Ursula in einem ganz unbeschreiblichen Dezim-Portamento vom dis“ hinab zum h „selbst dazu lacht“ und ich fassungslos dieses perlendes Glissando höre, das geradezu „göttlich“ amüsiert nach innen gurrt: Ähnliches kenne ich von Maria Tipo, und die hat bekanntlich nicht gesungen.
Viel ließe sich noch sagen zu dieser Einspielung. Zu der klugen Dramaturgie, mit der aus dem in der Tat „bedächtigen“ Anfangstempo ohne alle Hetze ein beglückender, äußerst subtiler Bogen entsteht; zu der Leuchtkraft der Instrumente und Instrumentalgruppen; und zu der gelungenen Quadratur des Kreises, mithin einer orchestralen Kammermusik, die wirklich beides in einem ist. Vor allem aber wäre vor dem Hintergrund der bereits erschienenen, gewissermaßen auf geweihtem Uraufführungsboden produzierten fünften Sinfonie eine Prognose zu wagen: Dass sich nämlich der Zyklus, den Markus Stenz, das Gürzenich-Orchester und Oehms Classics vorhaben, zu einer der bedeutendsten Neuausrichtungen entwickeln und vieles entbehrlich machen könnte, was man dem „Zeitgenossen der Zukunft“ im Laufe der letzten hundert Jahre angedichtet hat. Wer beispielsweise das Adagietto der Fünften so vernehmlich über Almas Almacht erhebt, der ist sicherlich auf dem richtigen Dampfer und fährt nicht gerade mit Luchino Visconti nach Venedig, und wer einem die Kleine, die Feine, das „Blondchen“ unter den Sinfonien, so unauslöschlich nahebringt, der hat die Noten und Zeichen begriffen.
Rasmus van Rijn [23.12.2010]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Gustav Mahler | ||
1 | Sinfonie Nr. 4 G-Dur für Sopran und großes Orchester |
Interpreten der Einspielung
- Christiane Oelze (Sopran)
- Gürzenich-Orchester Köln (Orchester)
- Markus Stenz (Dirigent)