Alexis Weissenberg Piano Recital 1972
SWRmusic 93.710
1 CD • 73min • 1972
10.06.2011
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Alexis Weissenberg war bis in die späten 80er Jahre ein Pianist von enormer Reputation, gern gesehener Gast auf allen Konzertpodien und regelmäßig für die großen Plattenfirmen im Studio. Das Recital bei den Schwetzinger Festspielen gab er im Mai 1972, viele Jahre bevor die Parkinson-Krankheit seine Karriere immer mehr überschatten und schließlich beenden sollte. Der nun vorliegende Live-Mitschnitt jenes Chopin-Abends belegt das große Können Weissenbergs, zeigt aber ebenfalls, warum er vielen als kontroverser Pianist galt, dessen künstlerischer Rang keineswegs unumstritten war. In technischen Belangen geradezu absurd begabt, meisterte er die kompliziertesten manuellen Probleme quasi im Vorübergehen und verfügte in gleich hohem Maße über Kraft, Intellekt und inneres Feuer. Andererseits war es vielleicht gerade diese Fülle an Talent, die ihn zu einer überenergischen, beinahe aggressiven Spielweise verleitete, welche seine Interpretationen oft „wie die eines Automaten erscheinen läßt, charakterisiert durch eine brutale Stärke, die jeden Ansatz von Poesie oder Introvertiertheit plattwalzt" (so die New York Times 1985).
Für Weissenbergs Technik würden viele Pianisten ihre Seele verkaufen – auch heutzutage besitzt kaum jemand eine solche Leichtigkeit im Überwinden aller schwarzweißen Hindernisse und Hürden. Worin aber scheinbar auch die Gefahr lauert, dass die Finger mit einem durchgehen und man der Verlockung zum persönlichen Show-Off nicht widerstehen kann. Geschieht das auf natürliche Art, aus der Eingebung des Augenblicks heraus, macht es die Musik impulsiv und aufregend (wie es etwa Martha Argerich in ihren besten Jahren so oft gelungen ist), aber bei Weissenberg gewinnt man zunehmend den Eindruck, dass er seine Gestaltung ganz bewusst auf diesen Kniff stützt. So zieht er bei schnelleren Notenwerten, zum Teil selbst bei einem Triller, das Tempo gerne noch extra an – tut er das dann zum zwanzigsten Mal, fragt man sich, ob er die Alternativen dazu überhaupt erwogen hat. Umso ironischer wirkt es, dass ihm beim letzten Stück dieses Klavierabends, der f-Moll-Ballade, offenbar die Kraft für den finalen Stretta-Ausbruch fehlte, wodurch der Schluss der Ballade um einiges an Effekt verliert.
Insgesamt betrachtet klingt Chopins Musik bei Weissenberg wie bei niemandem sonst. Die hohe energetische Dichte des Pianisten durchdringt alle Facetten der Gestaltung, besonders auffällig in den bereits angesprochenen Tempomanipulationen, aber auch im kraftvollen Ausspielen der Begleitfiguren der linken Hand, deren agitato-Motorik stets auf hoher Drehzahl läuft. Sein Kontakt zum Instrument ist in hohem Maße durch Unverblümtheit, ja Härte geprägt, mit der Texttreue nimmt er es nicht immer so genau. Andererseits vermeidet er jegliche Überzuckerung, legt viel Wert auf saubere Diktion und hohe Verständlichkeit selbst kleinster Notenwerte, verwendet nur minimales Pedal und langweilt keine Sekunde. Man kann diesen Chopin mögen oder nicht, doch aus der Masse ragt er hoch heraus – auch nach fast vierzig Jahren.
Henri Ducard [10.06.2011]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Frédéric Chopin | ||
1 | Polonaise-Fantaisie A flat major op. 61 | 00:11:48 |
2 | Piano Sonata No. 3 b minor op. 58 | 00:28:38 |
6 | Nocturne cis-Moll op. posth. Browne 49 | 00:03:43 |
7 | Nocturne F sharp major op. 15 No. 2 | 00:03:24 |
8 | Nocturne H-Dur op. 9 Nr. 3 | 00:05:43 |
9 | Nocturne c minor op. 48 No. 1 | 00:05:32 |
10 | Nocturne D flat major op. 27 No. 2 | 00:05:45 |
11 | Ballade f minor op. 52 No. 4 | 00:08:34 |
Interpreten der Einspielung
- Alexis Weissenberg (Klavier)