Martin Tchiba Linkages
Challenge Classics CC72562
1 CD • 68min • 2010
02.11.2012
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Bei dieser publizistischen Gelegenheit bestätigt ein Interpret mit seinem Instrument seine im Begleitheft formulierten Überzeugungen. Und er untermauert auch sein in knappen Worten behauptetes programmatisches Konzept. Ich erwähne dies, weil es keine Selbstverständlichkeit ist, dass sich die grundsätzlichen Erklärungen der Interpreten mit dem Inhalt, mit dem Gehalt und mit dem ästhetischen und kommunikativen Überbau des Gebotenen in Übereinstimmung befinden. Wenn Tchiba also für sich in Anspruch nimmt, „mit der Zeit zu gehen, ohne die Vergangenheit auszublenden, Innovation und Tradition aufeinander zu beziehen, ohne sie gegeneinander auszuspielen“, dann bleiben dies in hörendem Anbetracht seiner Werkwahl und seiner darstellerischen Leistung keine hohlen Sätze. Ein erster Blick auf die Werkwahl des 1982 in Budapest geborenen, in Deutschland aufgewachsenen Musiker genügt, um in seinem Programm mit Werken von Brahms, Wagner, Liszt, Lachenmann, Skrjabin und Schönberg ideelle, atmosphärische und auch musiksoziologishe Verbindungen, Gemeinsamkeiten und sinnstiftende Gegensätze zu erkennen.
Martin Tchiba – Schüler in Hannover von Karl-Heinz Kämmerling, später in Saarbrücken in der Klasse von Thomas Duis – gibt sich mit diesem kreiselnden, punktierenden, im Reizklima an der Wetterscheide von Romantik und Moderne gescheit und zugleich enthusiastisch. Dabei muss dem Hörer sehr wohl bewusst bleiben, dass der Begriff der „Moderne“ hier nur als ein Impuls zur individuellen Beurteilung des musikalischen Weltgeschehens gewertet werden sollte. Die ästhetischen Startblöcke für die so genannte Moderne werden je nach Bildung und daraus erwachsener Anschauung sehr verschieden platziert. Pierre Boulez etwa bezeichnete diesen Wende- und Ausgangspunkt mit Debussys ersten Prélude des zweiten Bandes, mit den rätselhaft brodelnden Brouillards. Andere Beobachter des kompositorischen Progresses nennen Strawinskys Sacre und könnten damit ebenso Recht haben wie jene, die es in dieser Frage mit Wagners Tristan halten. Die von Tchiba bezeichneten und mit einer überzeugenden Mischung aus Belesenheit und Animationsglut übermittelten Arbeiten aus einem Zeitraum von immerhin 102 Jahren erweisen sich bei näherem Hinsehen tatsächlich als jene „Linkages“, als die sie der Einspielung in ihrer künstlerischen Gesamtheit vorangestellt worden sind.
Martin Tchiba verleiht den bisweilen störrisch wirkenden, aber in vielen Passagen wiederum zärtlich vorüber schwingenden, klanglich kaum den Boden berührenden Brahms-Fantasien vom ersten Ton an ein erkennbares „Gesicht“. Er erklärt, ertastet den speziellen Duft eines jeden Stückes, er verliert sich nicht im Beschönigen des Schmerzlichen. Er hütet sich aber auch davor – wie etwas in den Ruppigkeiten der ersten Brahms-Fantasie –, allzu sehr den wilden Mann zu spielen. Ein den Fingern und Händen übertragenes Augenmaß sichert auch der letzten Skrjabin-Sonate Übersichtlichkeit in ihren klanglichen und emotionalen Ungebärdigkeiten, in ihrem Wechsel von Licht und Schatten, von Besinnung und Aufbegehren. Mir scheint, als gerate der Interpret im Verlauf dieser Viertelstunde immer wieder aus dem stillen, gefahrlosen Zentrum eines Hurrikans in dessen aufgewühlte, zerstörerische Randbereiche, um in gleißendem (Triller-) Schein wieder in die Geborgenheit dieses musikalisierten Naturschauspiels zurück zu kehren. Im Vergleich zu Tchiba bewegte sich Vladimir Horowitz in seiner Carnegie-Interpretation von 1966 in noch gefährlicheren Zonen der in Musik veranschaulichten Klimatologie. Aber hier handelte es sich auch um einen personalen wie pianistischen Grenzfall…
Nach Aufnahmen für die Label Hungaroton, Telos und Naxos ist diese Edition ganz im Sinne des aktuellen Produzenten „Challenge classics“ zu empfehlen, nämlich als eine echte und bewältigte „Herausforderung“.
Verlgleicheinschielungen: Skrjabin – Horowitz (CBS M3K 44681, CBS MK 42411), Ashkenazy (Decca 6.42399 AW), Banfield (Wergo 60081), Taub (Harmonia mundi France HMU 907011), Sofronitsky ( Melodya LP 08779-80), Mustonen (Ondine ODE 1184-2); Brahms – Alexeev (EMI EL 29 1178 3), Schließmann (Bayer Records), 100042), Leonskaja (MDG 943 1349-6), Angelich (EMI 379302 2), Kissin (VCR /DG 072195-3), Rubinova (EMI 0946 3 78207 2 8), Groh (Avi-Music 2136), Bonamy (Genuin 88132), Afanassiev (Vista Vera VVCD-80156), Gilels (Moskau 1983 VAI 4466 DVD), Gourari (Berlin classics 0016472 B), Ciccolini (EMI 50999 685824 2 5 CD 29), Boyde (Oehms OC 743), Kempff (DG), Katchen (Decca)
Peter Cossé † [02.11.2012]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Johannes Brahms | ||
1 | Capriccio d minor op. 116 No. 1 – Presto energico | 00:02:25 |
2 | Intermezzo a minor op. 116 No. 2 – Andante | 00:03:27 |
3 | Capriccio g minor op. 116 No. 3 – Allegro passionato | 00:03:18 |
4 | Intermezzo E major op. 116 No. 4 – Adagio | 00:04:34 |
5 | Intermezzo e minor op. 116 No. 5 – Andante con grazia ed intimissimo sentimo | 00:03:16 |
6 | Intermezzo E major op. 116 No. 6 – Andantino teneramente | 00:03:28 |
7 | Capriccio minor op. 116 No. 7 – Allegro agitato | 00:02:47 |
Richard Wagner | ||
8 | Ankunft bei den schwarzen Schwänen | 00:05:51 |
Franz Liszt | ||
9 | Nuages gris S 199 | 00:03:12 |
Helmut Lachenmann | ||
10 | Wiegenmusik | 00:04:02 |
Alexander Scriabin | ||
11 | Klaviersonate Nr. 10 op. 70 | 00:14:00 |
Arnold Schönberg | ||
12 | Suite op. 25 für Klavier (1921/1923) | 00:17:09 |
Interpreten der Einspielung
- Martin Tchiba (Klavier)