DG 00289 479 2784
2 CD • 1h 53min • 2014
02.09.2014
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Der ausgewiesene Werk-, Stück- und Satzanalytiker Pierre-Laurent Aimard – so wie wir ihn mit der Musik von Stockhausen, Messiaen oder auch Ligeti erlebt haben und zu kennen glauben –, dieser famose französische Erklärungs- und Durchleuchtungskünstler gibt sich hier mit dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers überraschend musikantisch. Und dies durchaus nicht im Sinne lässiger, umgänglicher Pianistik im jovialen Schulterschluss mit seinem Publikum, sondern auf eine darstellerisch entspannte Weise, die dem Hörer schon nach den ersten Takten des Eingangspräludium jegliche Scheu vor einem als intellektuell beleumundeten Werkgebäude nimmt. Wer hier am Beginn der präludierenden und fugierenden Rundreise durch den Quintenzirkel Glenn Goulds zupfende, klanglich unkomfortable Gang- und Tonart in Erinnerung hat – und wer hat dies nicht?! –, der wird sofort zur Kenntnis nehmen, dass sich hier ein Ästhet der geschmeidigeren, gerundeten „Unterweisung“ auf den Weg macht und zumindest zunächst einmal die aufführungspraktizierende Wissenschaft in Ketten hält.
Aimard positioniert und bewegt sich aus meiner Hörsicht mit dem C-Dur-Präludium irgendwo zwischen dem Klangvegetarier Gould und dem mit einigem Pedalbeharren ein Engelskonzert intonierenden Sviatoslav Richter. Das heißt: keine extravaganten Betonungen und Dehnungen à la Gould, keine Klangalchemie im Sinne von Entrückung und Übersinnlichkeit, wie sie Richter – damals durchaus überraschend – bis in die Nähe gottesdienstlicher Weihe rückte. Aimard scheint sich mit seiner gelösten, allenfalls zart didaktischen Dreiklangslyrik in einer musikalischen Welt einzufinden, die mit dem unvergleichlichen Bach auch eine Persönlichkeit wie jene seines Lehrers Olivier Messiaen beherbergt hat. Zwischen Bachs Wohltemperierten Klavier und etwa dem Catalogue d’oiseaux oder den Vingt régards von Messiaen bestehen zwar gewaltige Unterschiede in der pianistischen Diktion, der thematischen Ausgangslage, aber alle diese Werkkomplexe sind dem Glauben an Gott, an dessen Schöpfung im Kreatürlichen und Spirituellen geschuldet. Insofern scheint Aimard mit seiner Einspielung nicht auf der Suche nach einer interpretatorisch gezielt abgegrenzten Wiedergabe zu sein. Vielmehr – so meine ich – lässt er sich klaren Kopfes und mit allen manuell verfügbaren Kräften durch das Präludien und Fugen-Gefüge treiben und lotsen, als würden eben jene höheren Mächte die Führung übernommen haben, die auch Bach und später dann Messiaen bis in die geheimsten Taktwinkel gewogen waren.
In vielen Passagen mag man Aimards stichhaltige, sozusagen unwiderlegbare Verbindlichkeit in Nachbarschaft zur Einspielung Samuel Feinbergs erleben – freilich deutlich ausgeglichener in der klanglichen Aufzeichnung und natürlich auch räumlich präziser eingefangen. Die Entscheidungen für die jeweiligen Zeitmaße und die mit ihnen verknüpften rhetorischen und kantablen Konsequenzen wirken jederzeit stimmig, sichern den so abwechslungsreich erfundenen Stücken im Hurtigen wie im Verharrenden, im Jubelnden wie im Klagenden ein klares, einprägsames „Gesicht“. Aimard spielt und gewährt zugleich Einblick. Er lässt den Hörer wie einen stillen Mitwisser gleichsam neben sich Platz nehmen. Anders formuliert und dies entschieden aus meiner ganz persönlichen Sicht und Erfahrung: so intelligent-leutselig und in so freundschaftlicher Atmosphäre wie hier mit Aimard habe ich den ersten Band des Wohltemperierten Klaviers bis jetzt noch von keinem Pianisten erklärt bekommen.
Vergleichseinspielungen: Tuma (Supraphon SU 3600-2 132), Hewitt (Hyperion CDA 67301/2), Koroliov (Tacet 93), Tureck (1953 DG 463 305-2), G. Cooper (ASV GAX 251), Dantone (Arts 47654-2), E. Fischer(EMI 2 C 151-54045/9, bzw. Naxos 8.110651-52), Feinberg (TR RCD 16231), R.Levin (Hänssler 92.116), Fellner (ECM 476048 2), Barenboim (Warner 2564 61553-2), Gulda (Philips 412 794-2 – Original MPS-Aufnahm von 1972 u.1973), Richter (Eurodisc/Melodia 610276-234 – Salzburg /Schloss Klesheim 7.1970, auch RCA/BMG GD 60949), van Asperen (Cembalo – EMI CDS 7 49727 2), Ashkenazy (Decca 475 6832), Schiff (Lugano 8.2011 ECM 476 4827), London 1984 – Decca 414 388-2), Jarrett (ECM 835 246-2), Landowska (Pleyel Cembalo – RCA GD 86217 (2) – 1949 und 1951), Riefling (Simax PSC 1044-45), Sheppard (Roméo Records 7258/, Pollini (DG 477 8078), Mäser (Sarto classics CD A 525), J. C. Martins (Tomato 2699132), Gilbert (Cembalo – Archiv Produktion 413 439-1), Günther (Cybele Records 131302), Leonhardt (Cembalo – Basf /Harmonia mundi LP 5929173-1), Feinberg (Russian Disc RD CD 15 013), Gould (CBS M3K 42266), Cavallo (Dynamic CDS 113/1-4), Scheurich (Cembalo – RBM LP 3104/07.)
Peter Cossé † [02.09.2014]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Johann Sebastian Bach | ||
1 | Das Wohltemperierte Klavier Buch I BWV 846-869 |
Interpreten der Einspielung
- Pierre-Laurent Aimard (Klavier)