Women
IBS Classical IBS72018
1 CD • 55min • 2017
29.09.2018
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Eine starke, selbstbewusste Stimme erhebt sich im Spiel der gebürtigen Armenierin Sofya Melikyan – und die liefert auf der neuen CD „Women“ ein starkes Statement für mutige Komponistinnen, die sich trotz vieler Widerstände einer musikalischen Moderne verschrieben haben, die auch mal aufbegehrt, weil die Zeitumstände so sind, wie sie sind. Für Russland und Armenien markiert gerade das Jahr 1917 eine wichtige Schnittstelle. Die Rede ist von der russischen Revolution und der Tragödie des Völkermordes in Armenien. Die Gegenwart ist von neuen Spannungen und kulturellen Grenzziehungen geprägt. Da ist Musik ein Medium, um solche Grenzen zu überwinden und Seelenverwandtschaften offen zu legen. Eine solche Sprache spricht der reflektierend tiefgründige Booklet-Text und vor allem die Musik selbst, welche dies regelrecht auf den Punkt bringt. Dafür sorgt Sofya Melikyans zupackend energetisches Spiel allemal.
Da türmt sich sofort zu Anfang Sofia Gubaidulinas Klaviersonate aus dem Jahr 1965 mit ganzer Wucht und elektrisierender Spannung auf. Aufblitzende Tonskalen verdichten sich zum drängenden Geflecht, entfesseln die punktierte, bedrohliche Rhythmik. Gefolgt von einer Aura der sakralen Versenkung und des Stillstands, in dem aber aufgrund verstörender Klangmanipulation auch keine heile Welt vorkommt. Das Schlussallegretto markiert ein explosives Aufbegehren, wenn Sofya Melikyans Spiel verquere Tonabstände durchstürmt und schroffe Motorik hämmert. Ist das Sofia Gubaidulinas Antwort auf den verordneten „sowjetischen Realismus“ von außen? In der folgenden Suite Armenian Bas-Reliefs der Armenierin Geghuni Chitchyan (geboren 1929) macht das Spiel von Sofya Melikyan eine faszinierend moderne kompositorische Handschrift aus dem eigenen Heimatland erfahrbar. Auch hier betören dunkle Klangfarben, öffnen sich rätselhaft mytische Räume, offenbart sich aber auch eine poetische, exotisch aufblitzende Sinnlichkeit und tänzerische Spiellust.
Diese beiden Werke wirken so sehr ihrer Zeit voraus, dass es gar nicht wie ein Zeitsprung wirkt, wenn Kaija Saariahos Prelude aus dem Jahr 2007 daran anschließt, bevor eine Cluster Suite der Venezolanerin Raquel Quiaro eine spannungsvolle Ästhetik der Brüche pflegt – etwa, wenn streng zusammen gefügte modale Skalen immer wieder von clusterhaften Schockelementen durchbrochen werden.
Man kann nicht anders, als sich in diesen Strudel aus aufbegehrenden Emotionen, formalen Wagnissen und temperamentvollen Ausbrüchen hinein zu versenken. Oft fällt die Entscheidung schwer: Ist es vor allem die unverbrauchte Energie, die all diesen progressiven, Kompositionen wie ein Abbild ruheloser Zeitumstände innewohnt? Oder ist es diese tief gründende, die Botschaft vorbehaltlos erfassende Spieltemperament von Sofya Melikyan, welche dieses Hörerlebnis so unwiderstehlich macht? Die Antwort kann eigentlich nur auf beides hinaus laufen.
Stefan Pieper [29.09.2018]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Sofia Gubaidulina | ||
1 | Klaviersonate | 00:23:31 |
Geghuni Chitchyan | ||
4 | Armenian Bas-Reliefs | 00:14:13 |
Kaija Saariaho | ||
9 | Prelude | 00:07:15 |
Raquel Quiaro | ||
10 | Cluster Suite | 00:09:23 |
Interpreten der Einspielung
- Sofya Melikyan (Klavier)