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Besprechung CD

Janáček

Glagolitic Mass

Decca 00289 483 4080

2 CD • 1h 40min • 2013, 2014, 2015, 2017

25.12.2018

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 10
Klangqualität:
Klangqualität: 10
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 10

Klassik Heute
Empfehlung

Wenn man diese Aufnahmen hört, kann man nur unendlich bedauern, dass Jiří Bělohlávek nicht mehr unter uns ist. Hier also liegt nun – mit ‚seiner‘ Tschechischen Philharmonie und dem Prager Philharmonischen Chor – Bělohláveks Janáček-Vermächtnis vor, eine Zusammenstellung der bedeutendsten originalen Orchesterwerke – Sinfonietta, Taras Bulba und das Kind des Musikanten – mit der Glagolitischen Messe, die Decca postum erstmals mit Bělohlávek verfügbar macht. Und da haben wir schon die erste Überraschung vor uns, die sich für den, der keine Partitur zur Hand hat beziehungsweise das Werk nicht genauer kennt – nur bei aufmerksamem Studium des Booklettexts ziemlich undeutlich offenbart: Bělohlávek dirigiert in dieser Aufnahme vom Oktober 2013 die 1926 abgeschlossene und 1927 uraufgeführte Erstfassung der Glagolitischen Messe, die sich in den Details auf Schritt und Tritt massiv von der Endfassung unterscheidet. Das sind nicht einfach kleine, verbessernde Revisionen, sondern es ist über weite Strecken ganz und gar unmöglich, die Musik anhand der Partitur der Endfassung zu verfolgen. Ich gehe zwar davon aus, dass die – natürlich uneingeschränkt gültige – Endfassung die gelungenere ist, kann dies aber aufgrund des nunmehr entstandenen Höreindrucks nicht bestätigen – da erscheinen mir beide Fassungen (sicherlich auch aufgrund der großartigen Aufführung – als unabhängige Schöpfungen gleichwertig, wie einem dies beispielsweise auch beim Unterschied zwischen der zweiten und dritten Fassung von Anton Bruckners Dritter Symphonie ergehen kann. Ganz ausgezeichnet sind neben Chor und Orchester hier auch die vier Solisten: Hibla Gerzmava (Sopran), Veronika Hajnová (Alt), Jan Martiník (Bass) und ganz besonders der so dominant beanspruchte Tenor Stuart Neill. Auch Organist Aleš Bárta macht nicht nur in seinem großen Solo einen vortrefflichen Eindruck, und ich muss gestehen, dass ich immer wieder – und ganz besonders im wilden Finale dieser abseits aller Konventionen vertonten, das undomestiziert Archaische mit dem entfesselt Revolutionären verschmelzenden altslawischen Liturgie – aus dem Staunen nicht heraus komme, wie unglaublich kompromisslos und modern diese Musik des greisen Meisters ist. Ebenso unglaublich mag erscheinen, wie unerbittlich präzise und innig zugleich Bělohlávek diese Messe zum Erklingen brachte. Sein Musizieren war im schönsten Sinne selbstlos, absolut im Dienst des Komponisten, und daher war er – der zudem über eine exzellente Schlagtechnik, ein phänomenales Gehör und eine weitausgreifend korrelierende Vorstellungskraft verfügte – nicht nur in der heimatlichen tschechischen Musik der Welt führender Dirigent, sondern auch ein nicht geringerer Meister bei Mozart, Beethoven oder Mendelssohn, um nur wenige Beispiele von auf Tondokumenten verewigten Klassikern zu nennen. (Das sind Einspielungen, die man nicht weniger kennen sollte.)

Zum weiteren Programm dieser Doppel-CD: relativ früh (1912/revidiert 1914) ist die Tondichtung Šumařovo dítě (Das Kind des Dorfmusikanten‘ oder ‚Des Spielmanns Kind‘) auf das gleichnamige Schauergedicht von Svatopluk Čech (1846-1908) entstanden (wo der verstorbene Vater nachts dem Kind erscheint und es – so träumt es die Mutter – mit seiner Geige ins Jenseits entführt; am nächsten Morgen ist das Kind tot…). Bělohlávek vermag in frappierender Weise, die schroff gegensätzlichen Ausdruckswelten zu einer geradezu irrational scheinenden Einheit zu bündeln, und besonders hervorheben möchte ich das zauberhaft gespielte Solo des namentlich nicht genannten Konzertmeisters (Aufnahme vom Oktober 2015). Dass Bělohlávek der überragende Dirigent im dreisätzigen tragisch-heroischen Tongedicht auf Gogols Taras Bulba (1915-18) war, ist längst bekannt und bestätigt sich hier mit einer Intensität, die das bisher vorhandene noch übertrifft (Aufnahme vom Oktober 2014). Und dann ist da noch die finale Aufnahme der Sinfonietta von 1926, wo in den Ecksätzen zum vollen Blech (4 Hörner, 3 Trompeten, 4 Posaunen und Tuba) für die so unerhört eigentümlich gestalteten Fanfaren noch die im Stehen spielende (also entsprechend dem ‚Stürze hoch!‘ bei Gustav Mahler) Banda aus 9 Trompeten, 2 Tenortuben und 2 Basstrompeten hinzutritt. Dieser massive Klang macht zwar immer mächtig Eindruck, doch ist die Stimmführung eigentlich fast nie einigermaßen ordentlich durchhörbar, geschweige denn musikalisch bewusst durchgestaltet. Nun muss man wissen, dass Bělohlávek dieses Werk ganz zu Beginn seiner Karriere, einige Jahre nach dem Studium bei Celibidache, 1981 mit der Brünner Philharmonie in ganz unübertrefflicher Weise aufgenommen hat, mit einer durchsichtig schlanken Grellheit der Fanfaren, die bis heute singulär ist (diese Aufnahme wurde 2018 in der Supraphon-Gedenkbox ‚Recollection Jiří Bělohlávek‘ erstmals auf CD veröffentlicht, und vor allem deshalb kann diese 8-CD-Box gar nicht nachdrücklich genug empfohlen werden!). Später nahm er es auch mit der Tschechischen Philharmonie auf, doch die Höhe der Brünner Aufnahme blieb unerreicht. Nun aber kann man hier hören, dass es Bělohlávek und der Tschechischen Philharmonie bei ihrer letzten Einspielung im Februar 2017 – also kurz vor dem Tode des Dirigenten – gelungen ist, auf Basis der kritischen Neuausgabe Jiří Zahrádkas (erschienen 2017 bei der Universal Edition) mit existentieller Intensität eine der frühen Einspielung ebenbürtige – und somit eine zweite zeitlos vollgültige – Aufnahme der Sinfonietta, also von Janáčeks zwar beliebtestem, jedoch aufgrund der unbequemen Besetzung im Konzertsaal viel zu selten zu hörenden Werk, vorzulegen. In den Fanfaren-Ecksätzen würde ich trotz aller Klasse der alten Brünner Aufnahme immer noch den Vorzug geben, doch wird diese letztlich hier in den Mittelsätzen übertroffen, die Bělohlávek mit einer idiomatischen Klarheit und verzaubernden Poesie, einer ‚Berge versetzenden‘ Geistesgegenwärtigkeit und untrüglichen Disposition der komplexen Temporelationen entstehen lässt, dass man die überwältigende Erfahrung machen kann, diese Musik wie zum allerersten Mal in solcher elementaren Gewalt und vollendeten Verfeinerung des aus der Verwirklichung der Struktur erwachsenden Ausdrucks zu erleben.

Alle vier Aufnahmen sind in der wunderbaren Akustik des Prager Rudolfinum entstanden und tontechnisch (Jiří Gemrot und Václav Roubal bzw., im ‚Kind des Dorfmusikanten‘, Philip Siney) exzellent eingefangen worden. Leider ist lediglich die Qualität des zwar solide, aber in solcher Kürze doch ziemlich dürftig informierenden Booklets nicht auf der Höhe der musikalischen Produktion, doch angesichts der übrigen Herrlichkeit kann man das wohl ganz einfach verschmerzen. Die Partitur der Erstfassung der Glagolitischen Messe übrigens ist erst 2011 im Rahmen der Janáček-Gesamtausgabe bei der Edition Bärenreiter Praha erschienen, wurde vom Symphonieorchester des Tschechischen Rudfunks unter Tomáš Netopil ersteingespielt, und hier, unter Bělohlávek, handelt es sich um die erst zweite Aufnahme der Urfassung dieses erratischen Meisterwerks.

Christoph Schlüren [25.12.2018]

Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Leoš Janáček
1Glagolitische Messe für Soli, Chor und Orchester 00:41:27
9Sinfonietta op. 60 00:22:54
CD/SACD 2
1Taras Bulba (Rhapsodie für Orchester nach Nikolai Gogol) 00:22:50
4The Fiddler's Child 00:13:01

Interpreten der Einspielung

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