Friedrich Gernsheim
String Quartets Vol. 1
cpo 777 387-2
1 CD • 67min • 2017
27.05.2019
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Friedrich Gernsheim (1839-1916), in Worms aufgewachsen, stellt sich – noch nicht elfjährig – im März 1850 in Frankfurt gleich in dreifacher Funktion einem staunenden Publikum vor: als Pianist mit einem Hummel-Konzert, als Geiger mit Mendelssohns e-Moll Konzert und als Komponist mit einer Ouvertüre. Seine Eltern sind allerdings klug genug, ihren Sohn nicht als „Wunderkind“ zu verheizen, sondern ihm eine bestmögliche musikalische Ausbildung zu ermöglichen: zunächst in Frankfurt, dann in Leipzig bei Hauptmann und Moscheles. Dort erhält er bereits mit 15 sein Konzertdiplom und geht dann nach Paris, wo er die Luft einer echten Metropole schnuppert und nahezu alle Größen des zeitgenössischen Musiklebens kennenlernt. Er ist schnell sehr gut vernetzt und kann früh etwa Max Bruch, Hermann Levi und Johannes Brahms zu seinen engen Freunden zählen. Später wird er als Dirigent die zentrale Figur im Musikleben von Saarbrücken und Rotterdam, unterrichtet dazwischen im erzkatholischen Köln. Aber in Berlin erhält er die Position als Leiter des Stern’schen Gesangvereins aufgrund antisemitischer Ressentiments erst im zweiten Anlauf und nach Intervention seiner Freunde, besonders Brahms. Zur Nazizeit verboten, gelingt es der Musik Gernsheims nach dem Zweiten Weltkrieg leider überhaupt nicht, wieder in den Konzertprogrammen Fuß zu fassen.
Neben vier Symphonien ist es vor allem die Kammermusik, die mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Anfänglich noch stark an Beethoven und Schumann orientiert, nähert sie sich ab den 1870er Jahren stilistisch mehr an Brahms an. Bei den beiden hier vorgestellten Streichquartetten darf man sogar mutmaßen, dass schon die Opuszahlen eine indirekte Hommage an Brahms darstellen. Im ersten Quartett op. 25 in c-Moll (1872) findet sich als Finale ein Rondo all’Ongarese, das natürlich schon deswegen an Brahms‘ erstes Klavierquartett g-Moll, op. 25 erinnert. Und zwei der drei Brahms-Quartette tragen dieselbe Opusnummer wie Gernsheims drittes Quartett F-Dur: 51.
Abgesehen vom Finale, das vom Diogenes Quartett etwas zu behäbig vorgetragen wird – schon das poco meno mosso wirkt so gar nicht langsamer als der Beginn –, wird beim c-Moll Quartett sehr schön die noch vorhandene Beethoven- und Mendelssohn-Nähe herausgestellt. Die Entschiedenheit der 16tel-Synkopen im Kopfsatz, die exquisite Lyrik im langsamen zweiten und das überraschende Trio im dritten Satz werden überzeugend dargeboten. Überhaupt beeindruckt das Münchner Quartett mit einer großen dynamischen Spannweite und gut kalkulierter Agogik, weniger mit rhythmischer Pointierung im Detail.
Das F-Dur Quartett von 1885, nun klar an Brahms ausgerichtet, gelingt dem Diogenes Quartett noch plastischer, die Balance der Stimmführung noch kontrollierter. Hier zeigt sich Gernsheim kompositionstechnisch auf absoluter Höhe der Zeit, wenn man das Stück auch nicht so originell finden mag wie sein op. 25. Doch die berührende Melodik des Andantes und die auf relativ knappem Raum gezeigte Vielfalt der abschließenden Variationen zeugen vom ganz individuellen musikalischen Erfindungsgeist des Komponisten. Ob man diesem Stück allerdings dasselbe Maß an Zurückhaltung angedeihen lassen muss wie bei Brahms, könnte man erst gerecht beurteilen, wenn sich endlich mehr Musiker an Gernsheims Werke herantrauten. Die Aufnahmetechnik profitiert von der Akustik der Sendlinger Himmelfahrtskirche; heutzutage darf es wieder etwas mehr Hall bei Streichquartetten geben als bei der überdirekten Klangästhetik noch vor zwanzig Jahren. Das Booklet ist höchst informativ und gleichzeitig unterhaltsam.
Martin Blaumeiser [27.05.2019]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Friedrich Gernsheim | ||
1 | Streichquartett Nr. 3 F-Dur op. 51 | 00:30:13 |
5 | Streichquartett Nr. 1 c-Moll op. 25 | 00:35:51 |
Interpreten der Einspielung
- Diogenes Quartett (Streichquartett)