Joseph Keilberth dirigiert das Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester
Aldilà Records ARCD 013
2 CD • 2h 18min • 1956, 1961,1955, 1964, 1967
14.07.2022
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Vielleicht trügt mein Eindruck, aber mir will es scheinen, dass Joseph Keilberth (1908-1968) mehr als fünfzig Jahre nach seinem Tod noch höhere Wertschätzung als Dirigent erfährt als während seiner langen Karriere. Der unglamouröse, bescheidene Kapellmeister, den ich als Schüler noch live erleben konnte, blieb in der öffentlichen Wahrnehmung immer etwas im Schatten von Pultstars wie Karajan oder Bernstein. Erst die zahlreichen Live-Mitschnitte von den Bayreuther Festspielen und aus der Bayerischen Staatsoper haben seinen außerordentlichen Rang wieder ins Bewusstsein gerückt. Dass er nicht nur ein herausragender Interpret von Wagner und Richard Strauss war, sondern sehr viel auch für die Musik seiner unmittelbaren Zeitgenossen geleistet hat, ruft jetzt ein Doppelalbum mit Aufnahmen des WDR aus den Jahren 1955-1967 in Erinnerung. Dass diese Zeitgenossen nicht zur damaligen Avantgarde zählten, wird beim Hören ihrer meist vergessenen Werke sofort klar. Und es entspricht Keilberths Auffassung: „Ich habe Bedenken gegen eine Musik, die keine tonale Beziehung, keine tonale Grundlage hat.“
Drei Traditionalisten
Diese Bedenken teilt er mit den hier vertretenen Komponisten. Etwa Heinrich Kaminski (1886-1946), in den 1920er Jahren hochgeschätzt, dann als Vierteljude unter den Nazis kaltgestellt. Sein Hauptwerk, das Concerto grosso für Doppelorchester mit Klavier, sollte von Furtwängler uraufgeführt werden, wurde aber nicht rechtzeitig fertig, so dass der Komponist selbst bei der Premiere in Kassel (11. Juni 1923) als Dirigent tätig werden musste. Erst spätere Aufführungen unter Fritz Busch, Erich Kleiber und Hermann Scherchen brachten den durchschlagenden Erfolg. Letzterer gab die zutreffende Einschätzung: „Das ist seine stärkste Kraft, das ekstatisch religiöse sich Entgegenstellen, das auch musikalisch Form geworden ist.“ Das Werk fordert nicht nur den Musikern, sondern auch den Hörern einiges ab durch seine Gruppenpolyphonie, in der die beiden Orchester nicht nur in melodischer, sondern auch in rhythmischer Hinsicht „in sich und gegeneinander polyphon behandelt“ werden und ein „Kampf um die Vorherrschaft“ entsteht, wie Franz von Hoesslin anmerkte, der das Werk in Dessau erfolgreich aufführte.
Reinhard Schwarz-Schilling (1904-1985), ein Schüler von Kaminski, setzte dessen Arbeit stilistisch fort, fand aber schon in der Partita für Orchester (UA: 1935) einen eigenständigen Ton. In einer Jahrzehnte später verfaßten Selbstanalyse betonte der Komponist, dass er keine symphonisch-sonatenhafte Entwicklung angestrebt habe, sondern „die Bündigkeit tänzerischer Formen“. Ins Orchester solistisch eingebettet ist ein Concertino aus Violine, Viola und Cello, im letzten Satz kommt diverses Schlagzeug zum Einsatz. Trotz der großen Orchesterbesetzung ist die Partitur aber sehr filigran gearbeitet. In seinem Formverständnis zu den Klassizisten zu rechnen ist der von Keilberth auch persönlich sehr geschätzte Karl Höller (1907-1987), der seinen Ruhm als einer der führenden deutschen Komponisten um einige Jahrzehnte überlebte. Dabei ist sein souveränes und phantasievolles Spielen mit traditionellen Formen besonders in Passacaglia und Fuge nach Frescobaldi (UA: 1939), aber auch noch in der Fuge für Streichorchester (1948) durchaus auch für heutige Hörer nicht ohne Reiz.
Eine Liebe von Hindemith
„Ich habe die Stücke sehr gerne und bin sicher, dass sie bis jetzt das Beste von mir sind”, schrieb Paul Hindemith (1895-1963) an seinen Verleger im Juli 1923, nachdem er den Zyklus Das Marienleben auf Texte von Rainer Maria Rilke fertiggestellt hatte. Und diese Liebe blieb offenbar sein ganzes Komponistenleben bestehen, denn immer wieder arbeitete er diesen Zyklus um. Die Version von 1948 hat sich im Konzert-Repertoire durchgesetzt. Wohl weniger bekannt ist, dass es von einigen dieser 15 Klavierlieder auch Orchesterversionen gibt – vier davon entstanden schon 1939, zwei weitere zwanzig Jahre später. Sie erschließen dem Text in ihrem instrumentalen Farbenreichtum und in ihrer erzählerischen Beredtheit eine zusätzliche Dimension und erfahren durch die große Bach-Interpretin Agnes Giebel mit ihrem (auch von innen heraus) leuchtenden Sopran eine ideale Umsetzung. Nicht warm werden konnte ich mit dem Orgelkonzert, das Hindemith kurz vor seinem Tode für den renommierten Organisten und Komponistenkollegen Anton Heiller geschrieben hat und das im Zusammenwirken von Instrument und großem Orchester ein stellenweise kriegerisches Getöse entfacht.
Lebendige Klänge aus dem Jenseits
Der originelle Name des produzierenden Labels, Aldilà (was im Italienischen „Jenseits“ bedeutet), trifft hier in doppeltem Sinne den Sachverhalt. Nicht nur, dass die Komponisten und Interpreten schon lange tot sind, auch ihre hier vorgestellten Werke sind mit einer Ausnahme aus dem Konzertrepertoire verschwunden. Ihre neuerliche Überprüfung bestätigt indes eine alte Erfahrung: dass traditionsgebundene Werke weniger schnell altern als Produkte der jeweiligen Avantgarde, die ja oft nur einer Mode folgen. Und dass Kaminski, Schwarz-Schilling und Höller lebendig klingen wie am ersten Tag – das verdanken sie ohne Frage dem hingebungsvoll dienenden, warm pulsierenden Dirigat von Joseph Keilberth. Das Klangbild der Aufnahmen ist überwiegend mehr als befriedigend. Kaminskis Concerto grosso würde sicher mit heutiger Aufnahmetechnik noch gewinnen. Das liebevoll edierte Album enthält umfassende, auch ins Detail gehende Werkeinführungen von Christoph Schlüren.
Ekkehard Pluta [14.07.2022]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Heinrich Kaminski | ||
1 | Concerto grosso für Klavier und Doppelorchester | 00:31:44 |
Reinhard Schwarz-Schilling | ||
4 | Partita WV 12 für Orchester | 00:30:48 |
CD/SACD 2 | ||
Karl Höller | ||
1 | Passacaglia und Fuge nach Frescobaldi op. 25 | 00:19:26 |
2 | Fuge für Streichorchester | 00:09:28 |
Paul Hindemith | ||
3 | Das Marienleben op. 27 | 00:20:50 |
9 | Konzert für Orgel und Orchester | 00:26:13 |
Interpreten der Einspielung
- Theo Giesen (Violine)
- Paul Schröer (Viola)
- Alwin Bauer (Violoncello)
- Agnes Giebel (Sopran)
- Anton Heiller (Orgel)
- Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester (Orchester)
- Joseph Keilberth (Dirigent)