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Besprechung CD/SACD stereo/surround

Ghetto Lullaby

MDG 904 2267-6

1 CD/SACD stereo/surround • 76min • 2022

16.04.2023

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 9
Klangqualität:
Klangqualität: 10
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 9

Die junge südkoreanische Pianistin Yeseul Moon hat in Freiburg ihr Masterstudium (bei Gilead Mishory) und Konzertexamen absolviert, mittlerweile mehrere Preise gewonnen und vor zwei Jahren mit einer exzellenten CD mit Samuel Barbers Klavierwerk debütiert: Selten hörte man die intrikate Fuge der Sonate so fantastisch. Für ihre zweite Veröffentlichung bei MDG wählte sie nun Musik, die sich – mehr oder weniger direkt – mit den Schrecken des Nazi-Terrors auseinandersetzt und als Anti-Kriegs-Musik verstehen lässt.

Karl Amadeus Hartmanns 2. Sonate

Hartmanns Klaviersonate 27. April 1945 entstand angesichts der Beobachtung der sogenannten „Todesmärsche“ Dachauer KZ-Häftlinge noch kurz vor der Kapitulation der Nazis. Die einzelnen Sätze enthalten zudem Zitate politischen Liedguts: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“, „Partisanen von Amur“ und ein Fragment der Internationalen. Diese werden allerdings nicht – wie etwa bei Frédéric Rzewski – auf vorderster Ebene herausgestellt, sondern werkeln, teils geschickt verdeckt, gewissermaßen im Untergrund. Warum Frau Moon die monodischen Abschnitte – so die Litanei hebräisch-östlichen Ursprungs im Kopfsatz oder auch den Mittelteil des Finales – derart ins Pedal nimmt, dass hier alles total verschwimmt, bleibt rätselhaft, vermag sie doch gerade bei technisch komplexen Passagen perfekte Durchsichtigkeit zu erzielen. Das ist jedenfalls eindeutig Absicht, schafft zweifellos bei ihrem klanglich differenzierten Spiel Atmosphäre, widerspricht aber wohl den Intentionen Hartmanns, der hier vielleicht eine gewisse emotionale Leere einfangen wollte. Die virtuosen Stellen – auch im als Anhang nachgelieferten Scherzo der Erstfassung – gelingen der Koreanerin überragend; der zentrale Trauermarsch gerät dafür merklich zu schnell und verliert dabei einiges an Unerbittlichkeit. Das verstanden Benedikt Koehlen oder Siegfried Mauser besser, obwohl Yeseul Moons Spiel insgesamt äußerst ausdrucksstark ist, dabei jedoch stilistisch eher nach hinten blickt.

Gilead Mishorys Fugitive Pieces

Der gut halbstündige Zyklus (2005) des israelischen Komponisten (Jahrgang 1960) besteht aus 18 zusammenhängenden Stücken und bezieht sich auf den gleichnamigen Erfolgsroman der kanadischen Autorin Anne Michaels, wo die fiktive Story eines Holocaust-Überlebenden erzählt wird. Die einzelnen Abschnitte – das Booklet zitiert dazu entsprechende Textstellen – sind schon durch ihre Titel bildhaft-assoziativ, so dass die Musik unmittelbar verständlich wird. Dabei spielen später auch Musik-Zitate – Brahms‘ Intermezzo op. 117, Nr. 2 und die Mondscheinsonate – eine gewisse Rolle: als schmerzliche Erinnerung an die klavierspielende Schwester des Hauptprotagonisten. Mishory hat die Fugitive Pieces bereits selbst aufgenommen, und seine Schülerin wagt es (noch?) nicht, hier ihre eigene Dramaturgie zu entwickeln. Yeseul Moon nimmt alles eine Spur ruhiger als der Komponist, ist in ihrer Anschlagskultur bewusster, bei den Schockmomenten (Burst Door, Track [5] usw.) weniger brutal. Freilich kann sie mit ihrer empathischen Interpretation dieser ausgezeichneten Klaviermusik gleichermaßen überzeugen.

Christopher Tarnows Nachtstücke

Der Tonmeister und Komponist Christopher Tarnow (Jahrgang 1984) schrieb sein Klavierkonzert für Hardy Rittner, der Yeseul Moons Konzertexamen betreute, und erregte mit den beiden ersten Sonaten überhaupt für Theremin und Klavier großes Interesse. 2012 entstanden seine Nachtstücke und feiern hier ihre CD-Premiere. Geschickt werden drei durch Hermann-Hesse-Gedichte inspirierte Stücke mit drei freien Kompositionen verbunden, von denen das gegen gnadenlos kriegerische Klangkaskaden ankämpfende Gebet (Nr. 2) die stärkste Wirkung erzielt. Diese teils erratische, sensible Musik erreicht nicht ganz die Tiefe von Mishorys Werk, ist aber zumindest pianistisch dankbar und bei Yeseul Moon in denkbar besten Händen. Aufnahmetechnisch MDG-typisch makellos und mit präzis formuliertem, zweisprachigem Booklet kann diese Neuerscheinung durchaus begeistern.

Vergleichsaufnahmen: [Hartmann] Benedikt Koehlen (Telos TLS 055, 2004-05); Siegfried Mauser (Virgin 261 257, 1989) – [Mishory] Gilead Mishory (Neos 11022, 2008-09).

Martin Blaumeiser [16.04.2023]

Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Karl Amadeus Hartmann
1Sonate 27. April 1945 (aus Manuskript II) 00:18:48
Gilead Mishory
4Blind Guide (aus: Fugitive Pieces) 00:01:38
5Burst Door 00:00:56
6Milk Teeth 00:02:35
7Running, Falling 00:02:13
8Bella: Brahms 00:00:57
9Purple-Orange 00:00:52
10Into Sound 00:02:13
11Decrescendo 00:00:26
12Dreckiger Jude 00:03:11
13Pedhi mou 00:02:53
14Russian Dolls 00:01:56
15Ritardando 00:00:31
16Zakynthos: Sea 00:03:11
17Zakynthos: Stars 00:01:48
18Zakynthos: Stones 00:01:02
19Ghetto: Lullaby [Tapping] 00:01:54
20Car Radio 00:01:20
21Bella 00:04:01
Christopher Tarnow
22Wache Nacht (aus: Nachtstücke) 00:06:07
23Gebet 00:02:24
24Traumes Wirren 00:02:39
25Leb wohl, Frau Welt 00:03:14
26Wiegenlied 00:01:38
27Oktober 1944 00:04:42
Karl Amadeus Hartmann
28Sonate 27. April 1945 (aus Manuskript I, Presto assai. Scherzo. Version B)) 00:03:33

Interpreten der Einspielung

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