Eugen Engel
Grete Minde
Orfeo C260352
2 CD • 1h 58min • 2022
07.06.2023
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Eine Ausgrabung der besonderen Art konnte das Magdeburger Theater im vergangenen Jahr der erstaunten Öffentlichkeit präsentieren: bei der Oper Grete Minde nach dem gleichnamigen Roman von Theodor Fontane handelte es sich nicht um ein längst vergessenes Stück, dessen Repertoiretauglichkeit noch einmal auf den Prüfstand gestellt werden sollte, sondern um eine echte Uraufführung 90 Jahre nach Fertigstellung der Partitur. Den Namen des Schöpfers kannte bis dahin niemand. Der 1875 geborene jüdische Kaufmann Eugen Engel, der das Handwerk des Komponierens nebenberuflich betrieb, hatte fast zwanzig Jahre an dem Werk gearbeitet. Als er 1914 damit begann, stand die Musik am Scheideweg zwischen (spätromantischer) Tradition und Aufbruch in die Moderne. Für die Traditionalisten, zu denen Engel offensichtlich gehörte, war Richard Wagner noch immer das große Vorbild. Als Grete Minde endlich fertig war, kamen die Nazis an die Macht und an eine Aufführung war nicht mehr zu denken. Der Komponist floh in die Niederlande, doch bevor er ein Ausreisevisum in die USA erhielt, wurde er von den einmarschierenden Deutschen verhaftet und 1943 im Konzentrationslager ermordet.
Ein historisches Sujet
Das Libretto der Oper, das dem Roman weitgehend folgt und sogar einzelne Zitate daraus übernimmt, stammt von dem Rundfunkpionier Hans Bodenstedt, der – makabre Pointe der Geschichte – später bei den Nationalsozialisten Karriere machte und Verlagen wie „Blut und Boden“ und „Zucht und Sitte“ als Direktor vorstand. Das Sujet der Oper und der Vorlage Fontanes geht auf ein historisches Ereignis zurück, den Großbrand in Tangermünde von 1617, für den die verarmte Patriziertochter Margarethe von Minden verantwortlich gemacht und hingerichtet wurde. Spätere Historiker haben ihre Schuld allerdings in Zweifel gezogen und in unseren Tagen wurde ihr in Tangermünde sogar ein Denkmal aus Bronze gestellt. Fontane ging noch davon aus, dass sie die Brandstifterin war, aber er versucht ihre Motivation mit psychologischem Feingefühl nachvollziehbar zu machen. In der Oper wird Gretes tragische Liebesgeschichte mit ihrem Jugendfreund Valtin, der während einer Theatertournee stirbt, eingebettet in effektvolle Volksszenen und pittoreske Auftritte der Komödianten.
Walters Verdikt
Wir haben es also mit einer großen Oper zu tun, in der Engel mit dem großen romantischen Sinfonieorchester zuzüglich Orgel und Glockenklang, einem stattlichen Ensemble, Chor und Kinderchor musikalisch alle Register zieht. In der Nachfolge Wagners, an dessen Meistersinger man gelegentlich denken muss, und in enger Nachbarschaft zu dessen Schüler Engelbert Humperdinck, verbindet er romantischen Klangrausch mit volksliedhafter Schlichtheit. Der große Dirigent Bruno Walter, der auch selbst komponierte und Engel wohl gesonnen war, hat sich im holländischen Exil mit Grete Minde beschäftigt, anerkannte das saubere Handwerk des Freizeit-Komponisten, kam aber zu dem niederschmetternden Befund, es enthalte "nichts eigentlich Schöpferisches", "keine Erfindung persönlicher Prägung", kurz: "keine Originalität".
Ein potentielles Repertoirestück
Nun, die seither vergangene Zeit hat uns für dieses Werk wieder empfänglicher gemacht. „Originell“ ist es wahrlich nicht, aber es ist ein blutvolles, stellenweise mitreißendes Stück Musiktheater – ein „Gebrauchsstück“ im besten Sinne des Wortes, wie man das gleichermaßen von Tosca oder Tiefland behaupten kann. Der Opernbetrieb braucht solche Stücke und nach dem Erfolg der Magdeburger Premiere sollte man Grete Minde weitere Repertoire-Chancen geben. Auch ohne die bunte Szene teilt sich der Farbenreichtum der Musik in der Tonkonserve des Deutschlandfunk Kultur, die jetzt von Orfeo auf CD veröffentlicht wird, eindrücklich mit. Das solide Magdeburger Sängerensemble, aus dem die Protagonistin Raffaela Lintl nur geringfügig herausragt, wird den Anforderungen des Werks gerecht, Außerordentliches leistet indes die Magdeburgische Philharmonie unter Leitung ihrer Chefdirigentin Anna Skryleva, der diese Musik offenbar eine Herzensangelegenheit war. Da erlebt man Orchesterspiel von höchster Finesse und großer Detailgenauigkeit und Klangfarbenspiele, die Engel in die Nähe von Franz Schreker rücken.
Ekkehard Pluta [07.06.2023]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Eugen Engel | ||
1 | Grete Minde (Oper in drei Akten) | 01:58:19 |
Interpreten der Einspielung
- Marco Pantelić (Gerdt Minde, Ratsherr in Tangermünde)
- Kristi Anna Isene (Trud Minde, Gerdt Mindes Frau)
- Jan Arik Redmer (Der kleine Gerdt, Gerdt und Trud Mindes Sohn)
- Raffaela Lintl (Grete Minde, Gerdts Halbschwester)
- Jadwiga Postrożna (Emrentz Zernitz, Nachbarin der Mindes)
- Zoltán Nyári (Valtin, Emrentz Zernitz' Stiefsohn)
- Paul Sketris (Der alte Gigas, Pfarrer in Tangermünde)
- Johannes Stermann (Peter Guntz, Bürgermeister daselbst)
- Johannes Wollrab (Puppenspieler)
- Benjamin Lee (Hanswurst)
- Na'ama Shulman (Zenobia)
- Karina Repova (Die Domina des Klosters Arendsee)
- Frank Heinrich (Ein Wirt)
- Opernchor des Theaters Magdeburg (Chor)
- Magdeburgische Philharmonie (Orchester)
- Anna Skryleva (Dirigentin)