Jörg-Peter Mittmann
inner worlds
MDG 925 2285-6
1 CD/SACD stereo/surround • 77min • 2022
23.01.2024
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Als das Label MDG vor gut zwei Jahren ein Album des ebenfalls in Detmold beheimateten, auf Neue Musik spezialisierten Ensemble Horizonte herausbrachte, war darauf auch eine Komposition von Jörg-Peter Mittmann enthalten. Mittmann, 1962 im nahe gelegenen Minden geboren, ist Mitbegründer und künstlerischer Leiter des Ensembles, als Komponist unter anderem Schüler von Giselher Klebe, als Oboist von Helmut Winschermann. Das neu erschienene zweite MDG-Album des Ensembles ist zur Gänze seinem Schaffen gewidmet (ein weiteres Mittmann-Porträt erschien vor einigen Jahren bei Wergo). Zu hören sind fünf Werke in gemischten Besetzungen von vier bis neun Ausführenden (die sich in der Regel aus Holzbläsern, Streichern, Klavier, Harfe und Schlagwerk zusammensetzen), entstanden zwischen 1997 und 2022.
Innehalten, Rückschau und den Klängen nachhören
Das Vokabular von Mittmanns Musik ist grundsätzlich zeitgenössisch orientiert, und so wird man unter anderem einer breiten Palette von erweiterten Spieltechniken begegnen, die auch allerhand Geräuschhaftes in seine Musik integrieren. Der Titel des Albums, „inner worlds“, verweist dabei auf eine zentrale Komponente dieser Musik: es geht Mittmann besonders um Momente des Innehaltens, der Rückschau, des den Klängen Nachhörens. Typisch etwa die Situation, die im ersten der drei Bilder des Südens (1997) beschrieben wird, wenn „im Wind gleichförmig klappernde Fensterläden“ auf einem verlassenen Hof in Tunesien heraufbeschworen werden. Solche Ausdruckswelten faszinieren Mittmann, es dominieren also eher gedeckte Stimmungen und Timbres, und das oben genannte Geräuschhafte manifestiert sich in Raunen, leisem Zischen, Wispern, Rascheln, Knarren oder Tröpfeln. Dies schließt gelegentliche vehemente Ausbrüche nicht aus, speziell in der Beethoven-Hommage Fragile Harmonie (2019), der es nicht um Zitate oder direkte Annäherungen geht (genauso wenig übrigens, wie Bilder des Südens mit explizitem folkloristischem Kolorit arbeitet, nämlich gar nicht), sondern um das Nachvollziehen charakteristischer expressiver Gesten und Haltungen der Musik Beethovens. Andererseits: auch in der „Bildbetrachtung“ Gesten im Schwung (2022), die sich auf die Malerei des Informel bezieht, bleibt der titelgebende Schwung letztlich Episode, und es dominiert wiederum ein Moment des Innehaltens.
Eher Moment als Dramaturgie
Alle auf diesem Album versammelten Werke sind durch Kunst (im weiteren Sinne) inspiriert, so etwa Malerei, Dichtung oder Musik. In Sieben Strophen Heimat (2016/21), das als einziges hier vertretenes Werk mit Gesang arbeitet und dabei Fragmente verschiedener Dichter vertont, schafft Mittmann in der Mitte des Stücks zu den Worten Trakls „Wo vor Zeiten das Kind gewohnt“ durch Verharren auf und ruhiges Ausloten einer kleinen Terz durchaus einen solchen Moment der Rückschau, wie er ihn in seinem (präzise formulierten und gut lesbaren) Begleittext als Typikum seiner Musik vorstellt. Erwähnt sei an dieser Stelle auch, dass Mittmanns Interesse am Experiment, seine grundsätzlich avantgardistische Orientierung, Elemente der Tradition keinesfalls ausschließt, und entsprechend begegnet man immer wieder auch quasi-melodischen Gesten, gerne in den Holzbläsern, denen etwas Kantilenenhaftes innewohnt. Mittmann selbst notiert, dass sein Interesse eher nicht dem „großen dramaturgischen Wurf“ gehört, und in einigen seiner Stücke (speziell den größer angelegten) vermisst man so etwas wie dramaturgische Stringenz, eine nachvollziehbare Entwicklung, wie es mir auch schwer fällt, die Sieben Strophen Heimat wenigstens punktuell als „fast heiter“ zu empfinden oder im letzten der Bilder des Südens tatsächlich geschäftiges Treiben in engen Gassen zu hören (so eklatant ist der Unterschied zum nebligen Venedig zuvor nicht).
Ein enorm suggestivkräftiger, atmosphärisch dichter Zyklus
Das Werk, das für mich aus dem Programm heraussticht und das ich als besonders eindrucksvoll empfinde, ist das letzte, nämlich spektral (2003), ein Zyklus von elf Stücken, die Farbsymbole in Gedichten Trakls nachempfinden. Die tendenziell miniaturhafte Form dieser Stücke korreliert ausgezeichnet mit der Natur von Mittmanns Musik, und so kann man hier – die zitierten Farben selbstredend eher als Momente der Inspiration denn als konkret nachgebildet begreifend – eine bunte Staffelei von oft ausgesprochen suggestivkräftigen, atmosphärisch bemerkenswert dichten, übrigens auch in der Wahl der Besetzungen sehr differenzierten musikalischen Augenblicken erleben. Besonders hervorzuheben etwa die „Stille in blauen Räumen“ (Nr. 3), deren leisem, rhythmisch prägnantem Insistieren auf E etwas Hypnotisches innewohnt, oder auch das dunkle, unheilvolle Pochen in Nr. 9 (hier braut sich etwas zusammen...), und wenn in Nr. 11 finsteres Rumpeln schließlich in eine dramatische Kulmination mündet, gefolgt nur noch von einem kurzen Moment der Agonie, dann besitzt die Musik auf einmal eben doch eine ganz eminente dramatische Note, einen Sinn für Spannung und Zuspitzung. Meines Erachtens ein ausgezeichnetes Werk, und ich möchte behaupten, dass mit einer Portion Fantasie und Aufgeschlossenheit auch solche Hörer zu dieser Musik einen Zugang finden können, die sich nicht in erster Linie für Neue Musik interessieren. Zu guter Letzt sei noch die exzellente Spielkultur und interpretatorische Sensibilität des Ensembles Horizonte hervorgehoben, und natürlich bürgt MDG für eine ebenso herausragende Klangqualität.
Holger Sambale [23.01.2024]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Jörg-Peter Mittmann | ||
1 | Fragile Harmonie für Flöte, Klarinette, Schlagzeug, Klavier und Streichquartett (Beethoven-Momente) | 00:10:46 |
2 | Sieben Strophen Heimat für Frauenstimme, Flöte, Bassklarinette, Harfe, Schlagzeug, Viola und Violoncello | 00:14:55 |
3 | Gesten im Schwung für Oboe, Violine, Violoncello und Harfe (Bildbetrachtung) | 00:08:15 |
4 | Bilder des Südens (nach Bildern von Paul Klee) | 00:11:22 |
7 | spektral (Elf Klangbilder auf Farbsymbole in Gedichten von Georg Trakl) | 00:31:56 |
Interpreten der Einspielung
- Ensemble Horizonte (Ensemble)