Chaos String Quartet
Haydn • Ligeti • Hensel
Solo Musica SM 457
1 CD • 68min • 2023
18.04.2024
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Mit dem vorliegenden Album gibt das erst 2019 gegründete Chaos String Quartet, bestehend aus jungen Musikern aus Deutschland, Ungarn, Italien und den Niederlanden, die ihr Studium in Wien absolviert haben, sein CD-Debüt. In brandneuen Aufnahmen (entstanden erst im Dezember 2023) präsentiert das Quartett Streichquartette von Joseph Haydn, György Ligeti und Fanny Hensel.
Fulminante Ligeti-Darbietung
Bevor György Ligeti nach dem Ungarnaufstand 1956 nach Wien emigrierte und sich in den kommenden Jahren als einer der Fixpunkte der westeuropäischen Avantgarde etablierte, hatte er in Ungarn bereits eine ganze Reihe von Werken komponiert, so auch sein Métamorphoses nocturnes überschriebenes Streichquartett Nr. 1 (1953/54). Hier knüpft der junge Komponist noch recht deutlich an den Bartók der mittleren Quartette an, die er gewissermaßen aus experimenteller Perspektive betrachtet. In der Tat: die Lust am Experiment, am Arbeiten mit diversen erweiterten Spieltechniken, an rasend-frenetischen Steigerungen ist ein zentraler Bestandteil dieser Musik, die allerdings bei näherem Hinsehen gleichzeitig ein wesentlich höheren Maß an Organisation aufweist als es die kaleidoskopisch-bunte Szenenfolge zunächst vermuten ließe. (Dass das Werk in Ungarn quasi unaufführbar war, stimmt natürlich, allerdings bezogen auf die Zeit seiner Entstehung – nur wenige Jahre später wendete sich auch in Ungarn das Blatt deutlich zugunsten modernerer Tendenzen.) Das Chaos String Quartet zeigt sich in diesem Werk bestens aufgelegt und legt eine sehr idiomatische Interpretation vor, die gerade das Experimentelle, die virtuose Abfolge unterschiedlichster Charaktere temperamentvoll und präzise in Szene setzt.
Expressive Grundhaltung bei eher kühlem Ton
Stilistisch sind die beiden Eckpunkte des Programms mit Joseph Haydns Streichquartett f-moll op. 20 Nr. 5 (1772) und Fanny Hensels Streichquartett Es-Dur (1834) deutlich anders geartet, aber der Interpretationsansatz des Chaos String Quartet zeigt durchaus Kontinuitäten. Es sind auch hier relativ drangvolle (in der expressiven Grundhaltung, nicht unbedingt im Tempo) Lesarten, verbunden mit dem Willen, eigene Akzente zu setzen; stärker als bei Ligeti fällt dabei auf, dass der Ton des Quartetts eher etwas kühl anmutet (etwa im Vergleich zum Auryn-Quartett bei Haydn oder zum Erato-Quartett bei Hensel). Hensels Quartett hat in den Jahrzehnten seit seiner Erstveröffentlichung 1988 einen beachtlichen Popularitätsschub erlebt; nicht alles, was Fannys Bruder Felix Mendelssohn Bartholdy seinerzeit an ihm kritisierte, ist völlig von der Hand zu weisen, aber mit Gefühl und Charme interpretiert ergibt sich doch eine reizvolle Folge kleinerer Charakterstücke. Das Chaos String Quartet interessiert sich besonders für die polyphonen Strukturen (wie etwa das von Beethovens Harfenquartett inspirierte Fugato in der Mitte des Scherzos); hier und da könnte ihre Lesart etwas mehr Lyrik und Schmelz vertragen, etwa gleich am Beginn des einleitenden Adagios. In der Romanze versteht das Chaos String Quartet den bewegten, sicherlich passionierten Mittelteil fast schon als Drama von Dimensionen wie beim späten Schubert und steuert auf seine Klimax u.a. mit einem deutlichen Accelerando zu, was mir letztlich doch des Guten etwas zu viel erscheint.
Freiheiten in der Tempogestaltung
Gewisse Freiheiten in der Tempogestaltung kennzeichnen auch die Interpretation von Haydns f-moll-Quartett: schon den Anfang begreift das Quartett eher tastend, die unbegleiteten Sechzehntelfiguren der ersten Violine fast wie improvisiert auffassend. Dies setzt sich unter anderem im Trio des Menuetts fort, wo in der Folge der wiederum kadenzartig verstandenen Solopassagen der 1. Violine das Quartett für einige Momente auch das Grundtempo selbst deutlich anzieht. Hier stellt sich die Frage nach der rechten Dosis zwischen Kontrastreichtum und innerer Balance, deutlich weniger dann aber im langsamen Satz, wo gerade zu Beginn die Ornamente der ersten Violine sehr schön in den Siciliano-Fluss der übrigen Instrumente integriert wirken, sanft über dem Geschehen schwebend.
Ligetis Quartett als Zentrum des Albums
Das Beiheft enthält eine launig gehaltene Selbstvorstellung des Quartetts, die sich sehr intensiv mit der Namensgebung „Chaos“ befasst, und eine solide Einführung in die hier eingespielten Werke; allerdings sei darauf hingewiesen, dass Haydns Quartett keineswegs in einen „befreienden Abschluss in F-Dur“ mündet (das Finale bleibt bis zum Schluss in Moll, wobei der Schlussakkord die Terz ausspart). Ein interessantes Debüt mit Ligetis Quartett als Höhepunkt.
Holger Sambale [18.04.2024]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Joseph Haydn | ||
1 | Streichquartett f-Moll op. 20 Nr. 5 Hob. III:35 | 00:24:56 |
György Ligeti | ||
5 | Streichquartett Nr. 1 (Métamorphoses nocturnes) | 00:21:11 |
Fanny Mendelssohn-Hensel | ||
6 | Streichquartett Es-Dur H 277 | 00:23:20 |
Interpreten der Einspielung
- Chaos String Quartet (Streichquartett)