Monk of Salzburg
Nicodemus Passion
A medieval adaption
Audax Records ADX11212
1 CD • 57min • 2023
19.04.2024
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Wurde ein fünfter Evangelist namens Nikodemus entdeckt? Nein, so sensationell ist es dann doch nicht. Das Evangelium des Nikodemus gehört zu den wirkmächtigsten frühchristlichen Texten, die als sogenannten Apokryphen nicht ins Neue Testament aufgenommen wurden. Hierbei handelt es sich um eine Sammlung dreier Textkomplexe: den – fiktiven – Prozessakten des Pilatus, die Joseph von Arimathia und Nikodemus, die Jesus begruben, einen besonderen Stellenwert einräumen, die Auferstehungsberichte, wiederum mit Akzentuierung Josephs, und die ausführliche Darstellung der Höllenfahrt Jesu. Es inspirierte den Mönch von Salzburg zu einem neunstrophigen Lied, das Anne-Suse Enßle und Philipp Lamprecht mit instrumentalen Zwischenspielen zu einer mittelalterlichen Passion verarbeiteten.
Der Pseudo-Nikodemus und seine Spin-Offs
Uns Heutigen dürften eher die Spin-Offs des Nikodemus-Evangeliums geläufig sein. Die Höllenfahrt Jesu fand ihren Niederschlag in der mittelalterlichen Fresken- und Miniaturmalerei. Sie regte Dante zu seiner „Divina commedia“ an. Joseph von Arimathia mitsamt Kelch und Speer inspirierte die Gralslegende vom „Parzival“ des Wolfram von Eschenbach, den Artus-Epen, über Wagners „Parsifal“ bis hin zu Dan Browns „Da-Vinci-Code“. Auch der gern um Ostern gezeigte Monumentalfilm „Das Gewand“ wäre ohne „Nikodemus“ undenkbar. Dass das Original, das im Mittelalter häufig sogar als Anhang zum Neuen Testament in die Manuskripte aufgenommen wurde, heute eher unbekannt ist, liegt an seiner Indizierung durch das Konzil von Trient 1564, das die Gegenreformation einleitete und sich vom Vorwurf des unsauberen Umgangs mit den Quellen zu befreien suchte.
Vorarbeiten und Entscheiden
Wer die Lieder des Mönchs von Salzburg aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts neu beleben möchte, hat einiges an Arbeit vor sich. Da die Melodien nur in ihren Tonhöhen entweder – ähnlich wie gregorianische Choräle – in Quadratnotation auf einem 4-Linien-System fixiert sind, oder mehrheitlich als Punkte in einem 5-Linien-System stehen, müssen die Rhythmen weitgehend aus dem Versmaß der Dichtung erschlossen werden. Die nächste Entscheidung betrifft dann die Bearbeitung dieser Melodien, die teilweise als „Tenor“ bezeichnet sind und somit zur Improvisation eines Discantus, eines Contratenor bassus oder beidem einladen. Will man womöglich nur einen Bordunton unterlegen, oder einen zwei- bis dreistimmigen Satz ausarbeiten? Für einen solchen Satz stehen dann zeitgenössische Quellen wie der Codex Faenza (um 1350, zweistimmig) oder für die Dreistimmigkeit das „Fundamentum organisandi“ (um 1450) von Conrad Paumann, das sowohl im Buxheimer Orgelbuch wie auch im Lochamer Liederbuch erhalten blieb, zur Verfügung. Hier finden sich dann neben den benötigten Satz- auch die Verzierungsmodelle, die sich durch Sylvestro Ganassis „La Fontegara“ (1534) gerade für die Blockflöte noch erweitern lassen.
Kongeniale Umsetzung
Für die Nikodemus Passion muss ich Anne-Suse Enßle und Philipp Lamprecht dasselbe hohe Lob aussprechen, wie bereits für den Vorgänger „The anonymus Lover“. Das Duo Anne-Suse Enßle, Philipp Lamprecht löst die oben skizierten Aufgaben – in ein paar Nummern mit der Unterstützung von Susanne Ansorg an Fiedel und Rebec – bravourös. Eine in Bezug auf die Mühelosigkeit von Tonbildung, Artikulation und Fingerwerk so ausgefeilte Blockflötentechnik, wie sie Anne-Suse Enßle demonstriert, stünde wahrlich manch berühmteren Solisten wohl an. Ebenso brillant Philipp Lamprecht an Portativ, Hackbrett und mannigfaltigem Schlagwerk. Er singt zudem passenderweise betont ungekünstelt. So wird spätmittalterliche Musik lebendig!
Das Booklet ist opulent und bietet eine viersprachige Übersetzung der Texte sowie eine exakte Auflistung des eingesetzten Instrumentariums. Auch die Aufnahmetechnik gelang perfekt.
Fazit: Ich kann mir keine schönere, abwechslungsreichere und attraktivere Einführung in die mittelalterliche Monodie vorstellen. Deshalb definitiv empfohlen.
Thomas Baack [19.04.2024]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
trad. | ||
1 | Pange lingua gloriosi (Hymnal von Einsideln CH-E 366 (272)) | 00:02:52 |
Mönch von Salzburg | ||
2 | I. Die nacht wirt schier dez hymmels gast aus Passionsgesang nach dem Nicodemus-Evangelium | 00:03:45 |
3 | II. Gein Zedroa ging Jhesus aus Passionsgesang nach dem Nicodemus-Evangelium | 00:02:38 |
Anne-Suse Enßle | ||
4 | Centemplatio (Instrumental) | 00:01:56 |
Mönch von Salzburg | ||
5 | III. Zu prymzyt aus Passionsgesang nach dem Nicodemus-Evangelium | 00:02:17 |
Anne-Suse Enßle | ||
6 | Tenebrae (Estampie) | 00:02:26 |
Mönch von Salzburg | ||
7 | IV. Geseczet wart Jhesus aus Passionsgesang nach dem Nicodemus-Evangelium | 00:02:48 |
trad. | ||
8 | Christe qui lux es et dies (Hymnus, Hymnal von Einsiedeln CH-E 366 (472)) | 00:03:34 |
Mönch von Salzburg | ||
9 | V. Die Juden teilten sin gewant aus Passionsgesang nach dem Nicodemus-Evangelium | 00:02:24 |
Philipp Lamprecht | ||
10 | Instrumental (nach dem Passionsgesang des Mönchs von Salzburg) | 00:01:52 |
Anne-Suse Enßle | ||
11 | Planctus (Instrumental) | 00:03:34 |
Mönch von Salzburg | ||
12 | VI. Jhesus enpfalch sin můter aus Passionsgesang nach dem Nicodemus-Evangelium | 00:02:44 |
Philipp Lamprecht | ||
13 | Instrumental (über ein Melisma nach dem Passionsgesang des Mönchs von Salzburg) | 00:02:37 |
trad. | ||
14 | Crux fidelis (Estampie - Hymnus, Antiphonar von Saint-Denis F-Pn lat) | 00:02:46 |
Mönch von Salzburg | ||
15 | VII. Man brach den schachern ire beyn aus Passionsgesang nach dem Nicodemus-Evangelium | 00:02:22 |
trad. | ||
16 | Stabat Mater (Sequenz - Münchner Marienklage D-Mbs cgm 716) | 00:06:38 |
Mönch von Salzburg | ||
17 | VIII. Zu complet aus Passionsgesang nach dem Nicodemus-Evangelium | 00:02:37 |
Philipp Lamprecht | ||
18 | Iubilatio (Instrumental) | 00:00:33 |
trad. | ||
19 | Christus factus est (Estampie - Graduale von Rheinau CH-Zz Rh. 30) | 00:02:50 |
Mönch von Salzburg | ||
20 | IX. Ein absteig die besliessung aus Passionsgesang nach dem Nicodemus-Evangelium | 00:01:26 |
trad. | ||
21 | Eya der grossen liewe (Mondesee-Wiener Liederhandschrift A-Wn 2856 Mönch von Salzburg) | 00:02:21 |
Interpreten der Einspielung
- Philipp Lamprecht (Gesang, Percussion)
- Anne-Suse Enßle (Blockflöte)