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ARD-Musikwettbewerb Ein Fenster zu... Kompass

Kompass

Nocturnes jenseits des Klaviers

de Falla • Schönberg • Berio • Debussy

Der Begriff Nocturne kam im 18. Jahrhundert auf. Berühmt geworden sind besonders die Klavier-Nocturnes von Frédéric Chopin und John Field. Durch diese Vorbilder verstand man unter Nocturne bald allgemein ein Stück elegischen Charakters, das meist einer dreiteiligen Bogenform folgte. Bald begannen Komponisten auch, diese Idee auf Werke anderer Gattungen zu übertragen. »KLASSIK heute« stellt aus dem großen Fundus vier Nachtstücke für unterschiedliche instrumentale Besetzungen vor, die auf besondere Weise neue Gedanken zum Thema Nocturne entwickeln.

Claude Debussy (1862–1918)

Ursprünglich wurden die Nocturnes für Solo-Violine und kleines, zweichöriges Orchester konzipiert. Diese Fassung ist verlorengegangen; erhalten ist nur die Umarbeitung für großes Orchester aus den Jahren 1897 bis 1899. Debussy ließ sich für den Titel nicht von Chopin inspirieren, sondern durch gleichnamige Bilder des impressionistischen Malers James McNeill Whistler. Auf sein Programm schrieb er: „Es handelt sich nicht um die gewohnte Form des Nocturne, sondern um all das, was dieses Wort an besonderen Impressionen und Beleuchtungen einschließt.“ Farbe und Stimmung hatten also einen ganz besonderen Einfluß, und wohl zum ersten Mal fand Debussy hier zu seiner unverwechselbaren Sensibilität der Satzkunst. Die drei Sätze heißen Wolken, Feste und Sirenen und sind durch Naturerlebnisse und die griechische Mythologie inspiriert. Wie in La mer spielt in den langsamen Außensätzen das Meer eine prominente Rolle; den Mittelsatz sollen alte Volksfeste im Bois de Boulogne inspiriert haben, wenn Debussy später auch von dem „tanzenden Rhythmus der Atmosphäre mit dem Aufflammen greller Lichter“ sprach. Als Besonderheit setzte Debussy im Finale einen vokalisierenden Frauenchor ein, was später unter anderem Tscherepnin (Narcisse et Echo), Ravel (Daphnis et Chloe), Holst (The Planets) und Vaughan Williams (Flos Campi) zum Vorbild nahmen.

Manuel de Falla (1876–1946)

Die Nächte in spanischen Gärten sind in vieler Hinsicht ein Gegenstück zu Debussys Nocturnes. De Falla schrieb sie in seiner Pariser Zeit, wo er von 1907 bis 1914 lebte; sie sind also durchaus auch ein musikalischer Ausdruck von Heimweh. Ursprünglich für Solo-Klavier gesetzt, regte um 1911 der katalanische Pianist und Freund Ravels Ricardo Viñes an, daraus ein Werk für Klavier und Orchester zu machen. De Falla stellte das Werk erst kurz nach seiner Rückkehr nach Spanien fertig, wohin er wegen des Kriegsausbruchs 1914 zurückkehren mußte. Bestimmte Gärten sind in den Rahmensätzen charakterisiert, nämlich der Generalife, der den Sommerpalast des königlichen Harems in der Alhambra umgibt, und die weiten Gärten in der Sierra de Cordoba. Der mittlere Satz heißt Ferner Tanz und handelt wohl auch bereits in Cordoba, denn das Finale folgt attacca. Überhaupt sind in allen drei Sätzen Tanzrhythmen prägend. Das Werk wurde zu einem der berühmtesten de Fallas und steht zugleich in einer Reihe mit zahlreichen Stücken französischer Komponisten, die sich mit Spanien als Sujet befaßten, vor allem Ravel (Rhapsodie espagnole, Alborada del Gracioso, L’heure espagnole), Debussy (Iberia) und Chabrier (España).

Arnold Schönberg (1874–1951)

Schönberg ließ sich im Sommer 1899 durch ein Gedicht von Richard Dehmel zu seinem berühmten Nocturne inspirieren. Obwohl das Werk noch in die tonale Phase des Komponisten gehört, war die Wiener Uraufführung 1903 ein Skandal, und bereits zuvor urteilten die Juroren des Wiener Tonkünstlervereins, es klinge, „als ob man über die noch nasse ,Tristan‘-Partitur drübergewischt hätte“. Dennoch wurde das spätromantische, halbstündige Werk eines der meistgespielten Schönbergs, mehr noch als in der Originalversion für Streichquartett in der Bearbeitung für Streichorchester, die 1917 entstanden und 1943 noch einmal überarbeitet worden ist. Verklärte Nacht beschreibt in einer schon sinfonisch zu nennenden Form die Seelenstimmungen einer Schwangeren, die durch die Nacht irrt und sich nicht sicher ist, ob sie das Kind bekommen soll oder nicht, ob der Vater es annimmt oder nicht. Für Schönberg stand dabei im Vordergrund, „die Natur zu zeichnen und menschliche Gefühle auszudrücken.“ Er wollte das Werk aber ausdrücklich auch als reine Musik verstanden wissen, die „auch befriedigt, wenn man nicht weiß, was sie schildert.“

Luciano Berio (geb. 1925)

Berio schrieb sein einsätziges drittes Streichquartett zum 60. Geburtstag von Lorin Maazel im Jahr 1990. Wie der Titel zustande kam, erklärt er am besten selbst: „,Notturno‘ ist ein nächtliches Stück, weil es aus unausgesprochenen Worten und unvollständigen Gesprächen besteht. Es ist still, selbst wenn es laut ist, weil die Form still und nicht-argumentativ ist. Jedesmal, wenn es in sich zurückkehrt, bringt es diese stillen Worte an die Oberfläche; immer, wenn es innehält, auf einer einzelnen Figur besteht, sie besessen ausdehnt.“ Dadurch wird Notturno zur Antithese von Schönbergs Stück, denn als Bekenntnis zur Klangkomposition hebt sich in ihr jede Dialektik thematischer Arbeit auf, die bei Schönberg noch stark ausgeprägt ist. Zugleich wollte Berio aber auch das fassungslose Schweigen angesichts der Greuel des Holocaust zum Ausdruck bringen, denn über der Partitur steht ein Wort von Paul Celan (der zwar den Holocaust überlebte, sich aber 1970 in Paris selbst tötete): „ihr das erschwiegene wort“. Die Metapher nächtlicher Stille zeigt, dass man zu nichts führender Dialektik nur mit Schweigen begegnen kann und kritisiert somit nachdrücklich die Unart, Probleme durch Reden lösen zu wollen, die man durch keine noch so lange Diskussion lösen kann.

Elegischer Charakter und gerundete Form

Gemeinsam ist allen vier Werken das Bekenntnis zu den erwähnten Grundzügen des Nocturne. Sie alle sind von elegischem Charakter und folgen einer dreiteiligen Bogenform, die sich auch noch in den einsätzigen Werken von Berio und Schönberg wiederfinden läßt. Sogar alle Einzelsätze von Debussy und de Falla sind in sich dreiteilig! Debussy strukturiert sein erstes Nocturne zum Beispiel um ein Rufmotiv herum, das vom Englischhorn angestimmt wird. Dieses Instrument ist in der Orchestermusik seit Wagner ein klassisches Trauerinstrument. Dieser Klageruf kommt in Nuages unverändert mehrmals wieder, und es ist auch das Englischhorn, das mit einem zweiten Motiv die dreiteilige Form unterstreicht: Es steht am Ende des ersten Teils wie auch am Satzende. In den Sirènes tritt ein ähnliches Klagemotiv auf wie zu Beginn der Nuages – ein Seufzer, der sowohl Leid wie Lust ausdrücken mag, denn die Sirenen wollen ja den am Mast gefesselten Odysseus zu sich heranlocken und dann mit in die Tiefe ziehen: Das klassische Liebestod-Motiv (Tristan!) wird offenbar.

Es ist erstaunlich, wie Debussy aus diesem Motiv und seinen Wiederholungen die Form des ganzen Satzes entwickelt. Wie im ersten Satz wird am Ende des ersten Teils wieder ein zweites Motiv einführt, das auch am Satzende wiederkehrt. Der Kreis schließt sich, und wie danach die Musik regelrecht verdämmert, gehört zu den großen Momenten in der Musik. Debussy als großer Bach-Bewunderer hat sicher auch um die Bedeutung der Tonartensymbolik gewußt; so steht Nuages in der Passionstonart h-Moll und beginnt überdies mit einer Holzbläser-Paraphrase, die sich auf das berühmte Kreuzsymbol Dies irae der gregorianischen Totenmesse beruft. Da nun de Fallas erstes Nocturne mit genau dem gleichen Dies irae beginnt, wenn auch durch Wiederholungen der Seufzerfiguren (!) kunstvoll verschleiert, kann kein Zufall sein, zumal auch das Englischhorn wiederum eine Rolle spielt. Auch im Thema des Danza Lejana taucht es wieder auf, und de Falla läßt hier in Phrygisch tanzen, einer alten Kirchentonart, die nicht nur in der spanischen Volksmusik auftaucht, sondern natürlich ein Todessymbol ist. Überhaupt sind de Fallas Tänze selten heiter, der Schluß des Werkes ist ein ruhiger Epilog.

Farbigkeit und Bewegung

Bei allen Parallelen mit Debussy und aller Nocturnehaftigkeit sind die Nächte in spanischen Gärten doch ein Gegenpol, denn sie betonen in allen drei Sätzen den Tanz und das Pulsieren des Lebens, sind voller Brüche und ausgesprochen abwechslungsreich, manchmal orgiastisch wild, manchmal betörend sinnlich. Debussys Musik ist jedoch ausgesprochen monochrom und linear in der Bewegung. Wolken ist eine Studie in Grau ähnlich Monets Bild Sonnenaufgang, die tänzerischen Feste sind exaltiert, mit lebendigen Farben, in der Mitte phantastisch, aber nie sinnlich, und die Sirenen wirken in ihren silbernen Reflexen und Pastellfarben morbid wie das Venedig eines Thomas Mann.

Der Anfang der Verklärten Nacht mit absteigenden Moll-Tonleitern über tiefen Haltetönen wirkt gleichwohl so nächtlich, dass noch Richard Strauß im Anfang seiner Alpensinfonie, den er Nacht nennt, deutlich auf Schönberg anspielt. Im übrigen war für Schönberg die Farbe ein wichtiges Element. Die Entscheidung, die kammermusikalische Sextettbesetzung auf die Stärke des großen Streichorchesters zu erweitern, hat sicher auch mit der farblichen Vielfalt zu tun. Schönberg bemüht das Elegische in mehrfacher Art: Allein schon die Entscheidung, auf Blas- und Schlaginstrumente ganz zu verzichten, unterstreicht diesen Charakter; außerdem gibt es zahllose Tristan-Anspielungen, weite Passagen in Moll, sehnsuchtsvolle Kantilenen etc. Gerade schockierend ist aber die ungeheuere Beredsamkeit dieser Musik auf kleinstem Raum, besonders im Gegensatz zu Nuages und Berios Notturno: Bei Schönberg gibt es nicht nur Soli, die miteinander ins Gespräch kommen, sondern drastische Kontraste. Einem seufzenden Aufschwung folgt sogleich tiefste Resignation; schnell bauen sich wieder etliche Schichten auf – in nur zehn Sekunden schrammelnde Bässe, harsche Violoncelli, aufschreiende Bratschen und sich zornig emporreckende Violinen. Und all dies auf engstem Raum, gerade so, als ob jede einzelne seelische Schicht sich in aller Ausführlichkeit einer bereits üppig besetzen Gruppentherapie zugesellt. Schönberg hatte Recht: Angesichts dieser Beredsamkeit ist ein Wissen um das Programm nicht nötig.

Berios Notturno wirkt trotz ähnlicher Vielfalt der ausgeloteten technischen Möglichkeiten der vier Streichinstrumente doch nie so bohrend und quälend wie Schönbergs Verklärte Nacht. Es fällt auf, dass Berio die ausgesprochenen Worte aus der Stille selbst entwickelt, auch wenn es sich nur um ganz kurze Silben, Fetzen oder Partikel handelt. Das sind meist Tonsprünge oder kleine motivische Floskeln, die aber nur ganz selten zusammenfallen. Meist kann man jede dieser Floskeln deutlich aus dem Gesamtklang heraushören, denn sie heben sich entweder von einem flächigen Hintergrund wie einem Tremolo oder Halteklang ab, oder kurz zuvor gibt es eine winzige Pause.

Mehr noch: Berio gesteht auch anschließend den ausgesprochenen Worten wieder eine Art Stille zu, damit sie nachwirken können. Manchmal steht nach diesen Partikeln wiederum ein kurzes Innehalten, meistens werden diese Figuren auch sehr entschieden zum Abschluß gebracht. So setzt Berio seine Idee musikalisch um, Worte „in sich zurückkehren“ zu lassen. Man hat wiederum den Eindruck eines sich entfaltenden Bogens, denn die Musik verdichtet sich immer mehr, bis es aus einer langen, stillen Passage heraus einen wirkungsvollen Ausbruch gibt, etwa in der Mitte des Quartetts. Danach klingen manche Elemente vom Anfang wieder an (Haltetöne), und der gesamte Prozeß scheint aufs Neue zu beginnen. Es bleibt jedoch über weite Strecken ruhig, und auch letzte Anläufe führen nicht mehr zur Eruption; vielmehr „erschweigt“ sich die Musik die Unmöglichkeit ihrer Verklärung ebenso wie ein vergehender Traum.

Dr. Benjamin G. Cohrs

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