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ARD-Musikwettbewerb Ein Fenster zu... Kompass

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Josquin Desprez

Hör-Tipps anhand von ausgewählten Werken

Der globale Ruhm von Josquin Desprez traf auf die Anfänge eines florierenden Musikmarktes. Dank des Aufschwungs des Notendrucks konnten ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert auch musikalische Texte vervielfältigt werden; das mühevolle Abschreiben entfiel. So wurden Josquin von dem Verleger Petrucci als erstem und damals einzigem Komponisten mehrere Solo-Drucke zugestanden – in einer Zeit, in der Musik vor allem in Anthologien verschiedener Autoren veröffentlicht wurde. Josquin, „der Noten Meister“, wie ihn Martin Luther nannte, wurde so gründlich zur beherrschenden Komponistenfigur, daß ein großer Anteil an Werken unter seinem Namen veröffentlicht wurde, deren Authentizität später in Frage gestellt wurde. Es war wiederum Luther, der spitz anmerkte, Josquin habe noch nie so viel geschrieben wie nach seinem Tode. Hier werden jedoch Stücke besprochen, die nach bestem Wissen und Gewissen Josquin zugeordnet werden können.

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Doch was hob Josquin von seinen Kollegen ab? Eine Fähigkeit, die damals wie heute unmittelbare Bewunderung hervorruft, ist Josquins Beherrschung der Kanontechnik. Die fünfstimmige Psalmvertonung De profundis clamavi (Aus der Tiefe rief ich, Herr, zu Dir) etwa verschränkt gleich drei Stimmen zu einem Kanongerüst: den Superius, den Bassus I, der in der Oktav folgt, und den Altus, der in der Unterquart einsetzt. Gleichzeitig bilden der Bassus II und der Tenor einen Kanon in der Prim. Es entsteht ein pendelndes, dunkles Klangfeld auf „d“, aus dem die beiden Unterstimmen aufsteigen: ein Bild der Tiefe und des aufsteigenden Bußgesangs. Hörend kann man dieses Wunder an Stimmführung kaum verfolgen, aber es genügt zu wissen, daß das dreistimmige Gerüst streng durchgeführt wird, während das zweistimmige Paar etwa durch Triolenbildungen auflockert, was ansonsten zu bloßer Mathematik werden könnte.

Seitdem im 14. Jahrhundert englische Komponisten begonnen hatten, bei Vertonungen der Ordinariumstexte der Messe die einzelnen Teile (etwa Kyrie und Gloria) musikalisch aufeinander zu beziehen, entwickelte sich die Messe als die zyklische Form der Renaissance – ein Pendant zur Sinfonie der Neuzeit. Josquin stellte diese musikalische Einheit auf verschiedene Art und Weise her; in der berühmten Missa Pange lingua (Erklinge, Zunge) ist es der gleichnamige Fronleichnams-Hymnus, der das gesamte Stück durchzieht. Anders als andere Komponisten hält sich jedoch Josquin nicht sklavisch an die zu Beginn vorgestellte Melodie, sondern verändert sie. So kann man auf eine veritable Entdeckungsreise gehen. Während die charakteristische Melodie mit ihrem anfänglichen Pendeln „e - e - f - e“ im Gloria anfänglich noch der Exposition des Kyries sehr ähnlich ist, beginnt Josquin, mit dem Material zu spielen: Er wiederholt ein Melodiesegment und beantwortet es kanonisch im Baß. Im Credo wird nicht nur der Melodieaufschwung gekappt, nein, das Kopfmotiv erscheint auch bei einer äußerst prominenten Passage. Wenn von der Fleischwerdung Jesu berichtet wird („Et incarnatus est“), gibt Josquin erstmals die Polyphonie auf und interpretiert die Melodie harmonisch – wobei sie ihre charakteristisch-enge phrygische Einfärbung verliert. Daß Josquin im Benedictus (Sanctus) fast avantgardistisch mit kleinen Floskeln der Melodie spielt, die sich antworten, daß er im beschließenden Agnus Dei seine ganze bisherige Strategie modifiziert, indem er den Kanon nun nicht mehr in der Quint, sondern in der Oktave durchführt – diese Feinheiten können nur noch angedeutet werden. Josquins Spiel mit melodischer Ähnlichkeit und Verschiedenheit ist unendlich.

Interpretation einer Geschichte

Verschiedene Kompositionstechniken verwendet Josquin in der wohl früher entstandenen Missa la sol fa re mi. Das musikalische Basismaterial ist offensichtlich eine Erfindung Josquins, das fünftönige Motiv a-g-f-d-e“, das eben durch die lateinischen Solmisationssilben la sol fa re mi ausgedrückt wird. Um eine in den letzten Jahren vorgelegte historische Interpretation dieser Messe besser nachvollziehen zu können, sollte man sich erst ansehen, wie beharrlich und konsequent Josquin mit Ostinati arbeitet. Das Sanctus etwa stellt zunächst im Baß eine rhythmisierte Version dieser Tonfolge vor. Deren Punktierung, Tonschritte und Anzahl der Töne wird nun, mehr oder weniger intakt, immer wieder als Wiederholungsmodell benutzt. Eine aufsteigende Variante etwa bestimmt eine längere Zeitspanne, in welcher es im Bassus beschleunigt oder um ein verwandtes Ergänzungsmotiv erweitert wird. Im „Pleni sunt coeli“ erscheint es im Superius zunächst wörtlich, während das eindringlich wiederholte Baßmotiv drei Anläufe braucht, bis die Originalgestalt wieder hergestellt ist. Es kann aber auch, gleichsam alles überspannend, den langgezogenen cantus firmus des Benedictus bereitstellen. Die Hartnäckigkeit und Eindringlichkeit dieser Technik wurde von modernen Interpreten mit dem versteckten Titel „Laisse faire a mi“ in Verbindung gebracht, das so viel heißt wie „Laßt mich nur machen“ und durch das Thema „La sol fa re mi“ perfekt musikalisiert wird. Einige Indizien legen nun folgenden historischen Bezug nahe: Scheinbar zusammenhanglos findet sich in dem Chorbuch, das die Messe überliefert, das Portrait eines jungen Türken. Um 1495 befand sich der türkische Prinz Djem im römischen Exil; sein Bruder hatte ihm den Thron streitig gemacht. Djem war von dem Gedanken beseelt, mit Hilfe des Westens in der Türkei die Macht zu übernehmen (wozu es nicht kam). Seinen Wunsch kann man als „laisse faire a mi“ interpretieren. Auch wenn dieser historische Hintergrund plausibel ist – die Musik kann man auf die Geschichte nicht reduzieren. Interessant, und nicht zuletzt sehr wegweisend, ist außerdem der exzessive Gebrauch von Ostinati in diesem bemerkenswerten Stück.

Meister der Chanson

Nicht nur die geistliche und gelehrte Musik Josquins jedoch ist musikgeschichtlich bedeutsam; in seinen Chansons zeigt sich die melodische Seite Josquins, die zu seiner internationalen Popularität wesentlich beigetragen hat. In der Chanson Adieu mes amours etwa, die laut Ignace Bossuyt nicht zuletzt wegen des nachvollziehbaren Themas Geldmangel so beliebt war, findet sich ein erstaunlicher Kontrast zwischen der Liedhaftigkeit des Stückes und seiner kontrapunktischen Machart. Denn die beiden Unterstimmen, von denen der Tenor auf der verwendeten Aufnahme vom Solisten gesungen wird, sind kanonisch angelegt, auch die freieren, mit ihren Verzierungen instrumental wirkenden Oberstimmen imitieren sich oft genug, um nicht improvisatorisch zu wirken (man höre etwa die engen Verschränkungen der Oberstimmen in der Schlußentwicklung). Gleich, welche Stimme man auch als die zu singende Stimme wählt - der Sologesang ist motivisch eng mit seiner Umgebung verwoben, und wirkt dennoch solistisch. Einem Melodiker wie Josquin wird die Kunst des Kontrapunkts zur Unterstützung der Eleganz einer Komposition.

Bisher wurde die Stimmführungskunst betont, die Josquin mit der Kreativität eines Künstlers und Gelehrtheit eines Wissenschaftlers zugleich beherrschte. Josquin war sich jedoch auch der Wirkungen des Klanges bewußt. Das sehr private Stück La déploration sur la mort de Johannes Ockeghem, geschrieben wohl kurz nach dessen Ableben 1497, als eine kollegial-bewundernde Grabinschrift auf den großen Vorgänger, eröffnet plötzlich eine Klangtotale wie eine Katastrophe. Ähnlich frappierend wirkt es, wenn inmitten des Vollklangs eine einzelne Stimme isoliert wird. Dieses Spiel zwischen Kollektiv und Solo wird dann prekär, wenn diejenigen namentlich genannt werden, „die um Ockeghem trauern“: die Kollegen Brumel, Pirchon, Compère, und allen voran Josquin selbst. In der gesamten Dramaturgie des Widerstreits zwischen Kollektiv und Persönlichkeit situiert sich Josquin, bringt sich selbst in eine Komposition ein. Das macht wohl nicht zuletzt seinen Ruhm aus, daß er als einer der ersten nicht mehr bloß hinter sein Werk zurücktritt, sondern seinen Personalstil bewußt mitkomponiert.

Prof. Michael B. Weiß

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01.01.2001
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Josquin Desprez, Motetten / DGA
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