DG 463 448-2
1 CD • 80min • 1998
01.11.2000
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Diese Kantate ist ein Kuriosum, denn in dieser Form hatte Bernstein das Werk nie vorgesehen. Es handelt sich um eine konzertante, stark gekürzte Bearbeitung des Musicals 1600 Pennsylvania Avenue, das bislang nicht auf CD erschienen ist. Bernstein arbeitete seit 1974 intensiv an der Idee, "die Geschichte der kleinen weißen Lüge – damit meine ich die große schwarze Lüge – zu erzählen": Eine Rückblende auf hundert Jahre Geschichte der Staaten, in der die Präsidenten ganz oben mit dem Elend ganz unten konfrontiert werden. Die ursprüngliche Partitur wurde laut Bernstein länger als Rheingold; die Premiere war der schlimmste Flop in seiner ganzen Karriere und traf ihn inmitten seiner tiefsten Lebenskrise: 1976 outete er sich öffentlich und verließ seine Familie; das Musical wurde zurückgezogen und für andere Werke ausgeschlachtet. Noch kurz vor seinem Tod wollte Bernstein 1600 Pennsylvania Avenue aber wieder aufnehmen. Dazu kam es leider nicht mehr. Ob die hier vorgelegte White House Cantata einen gelungenen Rettungsversuch darstellt, läßt sich nicht beurteilen, da der Vergleich zum Ganzen fehlt. Zweifellos haben Bernstein und Autor Alan Jay Lerner aber ein vitales und ironisches Werk geschrieben.
Liest man die doppelbödigen Texte, fragt man sich, ob das Musical nicht vielleicht die Amerikaner zu sehr in ihrem Patriotismus getroffen hat, um in den USA wirklich erfolgreich sein zu können. Eine wagemutige europäische Bühne könnte sich aber um 1600 Pennsylvania Avenue noch immer verdient machen. Die Musik ist jedenfalls herrlich und steht Candide in nichts nach. Der Titelsong Potomac River zum Beispiel ist ein echter Schlager (Tr. 2, 2'13) – schmissig und ohrwurm-artig. Bis zu einer Wiederauferstehung des vollständigen Musicals bleibt nur dieser Querschnitt.
Die hier zusammengezogenen Präsidenten-Szenen formen ein in sich stimmiges Ganzes, abwechslungsreich, anregend und gehaltvoll. Thomas Hampson führt mit seinem noblen Bariton als Ideal-Verkörperung aller beteiligten Präsidenten eine flexible, spiel- und entdeckerfreudige Besetzung an. Das London Symphony Orchestra ist in Bernsteins Idiom zu Hause, und auch Kent Nagano ist ein großer Bernstein-Fan – wenn auch sein Musizieren eine Spur kühler wirkt als der Drive von Michael Tilson Thomas in On the Town.
Größtes Lob gebührt auch London Voices, die die trickreichen Chorszenen differenziert gestalten und den Solisten kongeniale Vokalpartner sind (Tr. 6). Ein kleiner Wermutstropfen ist der schwammige Booklettext. Autor Charlie Harmon bleibt die Information über den Erfinder des Titels White House Cantata genauso schuldig wie redaktionelle Einzelheiten zur vorgelegten Version des Stücks. Da der in einer Fußnote angegebene Artikel nur schwer zugänglich ist, seien Interessenten an der Geschichte des Stückes hier zusätzlich auf Humphrey Burtons ausgezeichnete Bernstein-Biografie (Verlag Albrecht Knaus) verwiesen.
Dr. Benjamin G. Cohrs [01.11.2000]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Leonard Bernstein | ||
1 | A White House Cantata (Scenes from 1600 Pennsylvania Avenue) |
Interpreten der Einspielung
- Thomas Hampson (Bariton)
- London Voices (Chor)
- London Symphony Orchestra (Orchester)
- Kent Nagano (Dirigent)