Ondine ODE 1040-2
1 CD • 61min • 2003, 2004
14.04.2005
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Nachdem ich schon beim Hören der vorigen Veröffentlichung mit den Sinfonien drei und fünf aus dem Häuschen geraten war und auch über die hier vorliegende Schlußproduktion der Unternehmung nur Gutes sagen kann, wollte ich mir aus purer musikalischer Neugier doch gern einen Gesamtüberblick über den unter Leif Segerstam in Helsinki entstandenen Zyklus verschaffen. Vielleicht, so dachte ich, ist da während der letzten gut zwei Jahre in der Finlandia Hall ja so etwas wie eine komplette Sensation entstanden ...
Doch die beiden ersten CDs mit den Sinfonien 1 und 7 (ODE 1007-2) sowie 2 und 6 (ODE 1026-2) bewegen sich bedauerlicherweise nicht ganz auf dem spektakulären Niveau ihrer Nachfolger. In der Ersten und Siebten fehlt trotz aller schönen Klangerscheinungen die phänomenale Innenspannung der beiden letzten Produktionen; überdies kommt es besonders in der ersten Sinfonie zu einigen agogischen Willkürlichkeiten, die an der einen oder andern Stelle fast etwas Oberlehrerhaftes haben und einen geradezu verärgern können (es gibt noch immer Leute, die ähnlichen Schnickschnack bei Bruckner für nötig halten). Gegen die Interpretation der Zweiten ist wenig einzuwenden, die Sechste hingegen leidet unter einer Art von orchestraler Materialisierung, die die beinahe gespenstischen Lichter der Musik zu „greifbar” und gegenständlich erscheinen lassen.
Fast könnte man meinen, Segerstam habe erst während der Arbeit, bei der er sich von den Rändern dem Zentralgipfel der vierten Sinfonie näherte, die ganze Tragweite seines Tuns und der musikalischen Aufgabe begriffen, denn das jetzt erschienene „Finale” ist die jüngste und tatsächlich die gelungenste Einspielung der Serie (was schon etwas heißen will, wo doch die beiden Geschwister zur rechten und linken ohnehin ganz vorzüglich sind). Ich gebe gern zu, daß mich diese neue CD von Anfang an gepackt hat. In Pohjolas Tochter hört man selten so schön die Vorankündigung der dritten Sinfonie, die nur noch folgen kann; die melancholische Düsternis des Anfangs spannt sich sofort hinüber zum ersten, organisch entwickelten Tempowechsel und federt weiter in äußerst subtil und unausweichlich sich steigernden Schüben, deren Kanten und Ausbrüche Segerstam in bewundernswerten Blechbläsercrescendi geradezu bildhaft modelliert, ohne je aus diesem verhaltenen Stück Musik einen „Knaller” zu machen.
Das tut er nicht einmal mit dem festlichen Finale des Zyklus, der unverwüstlichen, unendlich oft gehörten und doch immer wieder (warum eigentlich?) so elementar faszinierenden Finlandia: Ich kann machen, was ich will, wenn der Hymnus ertönt, verlier’ ich noch immer die Fassung – und hier ganz besonders, weil Segerstam nicht nur die inzwischen gelegentlich aufgeführte Variante mit Chor eingespielt hat, sondern weil der Männerchor des Polytechnikums obendrein einen solchen Schub in seine Aufgaben legt, daß man schier aufspringen und mitsingen möchte. Die Herren haben eine derart messerscharfe und klare Aussprache, daß man in der Tat jedes Wort versteht – jetzt müßte man halt nur noch wissen, was es auf deutsch heißt (aus unerfindlichen Gründen hat man auf den Abdruck des Textes verzichtet, der nicht so schlimm ist, daß man ihn verstecken müßte).
Doch der redaktionelle Schaden ist verschwindend gering. Wenn man sich erst einmal mit der so ungeheuren vierten Sinfonie einläßt, wird man Oi Suomi, katso sinun päiväs koitaa sicher nicht mehr vermissen, denn die mysteriöse Reise, auf die uns Sibelius in diesem seinem eigenartigsten Werk mitnimmt, rührt noch jedesmal an einen Satz sympathischer Seelensaiten, die nur von ganz wenigen Kompositionen angesprochen werden und diesen Ereignissen demzufolge weitgehend untrainiert, sprich wehrlos ausgesetzt sind. Besonders hier, wo man zeitweilig nicht mehr den Eindruck hat, Musik zu hören, sondern Zeuge tektonischer Elementarverwerfungen zu sein; wo Segerstam beispielsweise im Kopfsatz verschiedene Schichten mit solcher Wucht (und dabei ohne alle Aufgeregtheiten) gegeneinander- und übereinanderschiebt, daß es regelrecht knirscht und brodelt – und dann steht da plötzlich dieser simple, über alle Bedrohungen sich erhebende Hornruf! Oder dieses Scherzo mit seinem geisterhaften Trippeln und Schwirren und Waldweben, das so jäh, als wär’s weggewischt, sein Ende findet, ein großes Rätsel von nicht einmal fünf zügig ausgefüllten Minuten, ein Muster an Transparenz aber auch, wenn es so gespielt wird wie hier, voll kleiner Andeutungen, unversehens erblühender und wieder vergehender Seitentriebe (als sähe man den Tagesablauf einer Blume im Zeitraffer) ...
Kurzum, Segerstam präsentiert dieses einzigartige Stück Musik mit derselben expressiven und emotionalen Amplitude, die Sibelius hineinkomponiert hat; mit dem ständigen Hochdruck, der die unter der Oberfläche wirkenden Urgewalten geradezu körperlich spürbar werden läßt und doch nie explodiert, sondern ganz naturhaft – was an der Vierten immer wieder verblüfft – in zarten, erlesenen Schönheitsknospen emporkeimt; und mit dem großen, spannungsvollen Bogen, der nach dem im Nichts verklingenden Ereignis nur einen Wunsch weckt: Diese Aufnahme gleich noch einmal zu hören.
Rasmus van Rijn [14.04.2005]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Jean Sibelius | ||
1 | Pohjolas Tochter op. 49 (Sinfonische Dichtung) | |
2 | Sinfonie Nr. 4 a-Moll op. 63 | |
3 | Finlandia op. 26 Nr. 7 (Tondichtung für Orchester) |
Interpreten der Einspielung
- The Polytech Male Choir (Männerchor)
- Helsinki Philharmonic Orchestra (Orchester)
- Leif Segerstam (Dirigent)