Girolamo Frescobaldi Fantasie e Canzoni
Accent ACC 24169
1 CD • 76min • 2004
17.11.2005
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Seit fast 25 Jahren lebt der friesische Organist Luiwe Tamminga in Bologna, das er einst auf den Spuren Luigi Ferdinando Taglivinis aufsuchte, um sich von diesem Altmeister italienischer Orgelkunst (und nicht nur dieser) in die Tiefen italienisch klassischer Orgelmusik einführen und vor deren Untiefen warnen zu lassen. Seit der Restaurierung der beiden legendären Instrumente von San Petronio versieht Tamminga dort das Organistenamt.
Lorenzo da Pratos Instrument von 1473 und Baldassare Malaminis Orgel von 1596 verkörpern in besonderer Weise die frühe technische und musikalische Vollkommenheit der italienischen Orgel und ihren über fast 400 Jahre anhaltenden Konservativismus, weil der erreichte Stand alle liturgischen Anforderungen zu befriedigen in der Lage war, ja am Ende des 16. Jahrhunderts den baierischen Orgelbau so nachhaltig beeinflusste, dass dieser seine klangliche Ausrichtung änderte.
Tamminga stellt auf seiner CD das erste Fantasienbuch (1608) den fünf Canzonen aus den Recercari et Canzoni (1615) gegenüber, wobei er mit großer Sensiblität die klanglichen und technischen Möglichkeiten der Orgeln einsetzt. Im Sinne des oftmals überaus strengen, keineswegs härtenlosen Kontrapunktes Frescobaldis, der den Hörer gerade durch seine „Abgeklärtheit“ immer wieder an Bachs II. Teil des Wohltemperierten Claviers erinnert, vermeidet Tamminga den Einsatz überspannter interpretatorischer Mittel. Allein das Gegeneinandersetzen und klangliche Ausspielen beider Prospektprincipali der Orgeln wird zum Erlebnis, zu dem auch die Aufnahmetechnik in der denkbar kritischen Akustik von San Petronio adäquat beiträgt. An diese aufnahmetechnische Sicherheit musste man sich allerdings hörbar herantasten, weshalb der CD-Beginn (Toccata per l'Organo col Contrabasso overo Pedale) etwas großmächtig direkt ausfällt. Dies vermag man gerade als verwunderter Kenner der Bologneser Orgeln, die den Raum ganz bewusst nur sehr schwach anregen, erst nach einigen weiteren Werken Frescobaldis klanglich zu verstehen: Der intrikate kontrapunktische Satz Frescobaldis und die klangliche Differenzierung der Principali beider Prospekte der Orgeln zwingen zu aufnahmetechnischen Kompromissen.
Die irisierenden Farben der mitteltönigen Temperierung tun ein übriges, wobei man ganz gerne auf einen stehen gebliebenen Wischer und das Ruhe heischende „Schsch...“ in einer Pause verzichtet hätte. Angesichts der Abstraktheit des Satzes Frescobaldis hätte mich das Herunterziehen des Raumgeräusches jeweils am Ende der fünf CD-Sequenzen nicht gestört. Die Digitaltechnik kann es eben, weshalb sich diese Praxis entwickelte, nicht immer zum Vorteil des gebotenen Programmes, selbst wenn – wie hier – aufgrund der geringen Lautstärke der Instrumente die Windversorgung ständiger akustischer Begleiter der langen Nachhallzeit des Bologneser Domes ist. Dieser stellt sich Tamminga nicht immer, denn manches Mal wünschte ich mir, er hätte zügig geschlossene Zäsuren raumbetonter ausgelebt, wie denn angesichts der akustischen Eigenschaften des Domes manche Artikulation vielleicht doch hätte eine Verschärfung vertragen können; dennoch: er ist der Fachmann, der uns auf interessante Weise durch 72 Minuten Kontrapunkt frescobaldischer Prägung führt.
Die klangliche Erscheinung der Instrumente auf niedrigstem Winddruck (47 mm), die allein das klassische italienische „ripieno“ nebst weniger „Flauti“ kennen, bringt es mit sich, dass der Hörer für diese Klangstruktur ein Faible mitbringen muss, um die 72 Minuten strikten Kontrapunkts ohne das Gefühl des Exerzitiums hinzunehmen. Tamminga weiß das, legt seine Tempi daher zumeist an die obere, raumgegebene Grenze; an der vom Hörer durch diese CD geforderten Bereitschaft zur Analyse ändert das aber nichts. Wer sich dem aber unterordnet, wird reich belohnt.
Als Realisierung einer schönen Idee gab man der CD einen Track mit den professionell geläuteten Turmglocken von San Petronio bei, das noch mehr überzeugt hätte, wenn der Anschnitt an das – wiederum durchlaufende – Raumgeräusch des Domes und die Schlussblende etwas erfreulicher ausgefallen wären. Der beigefügte, interessante Textteil wurde sichtlich aus dem Niederländischen übersetzt, was nicht zuletzt ein paar unnötige Unbekümmertheiten nach sich zog, denn im Deutschen haben wir einstweilen noch keine „Cembalos“, und die Italiener haben nicht das Buch, sondern den Libro.
Diese kleinen Fleckchen auf einer weißen Weste jedoch hindern mich nicht daran, diese CD jedem Liebhaber ans Herz zu legen, der sich in unserer effektgeladenen Umgebung einen Sinn für die musikalische und klangliche Analyse bewahrt hat.
Thomas Melidor [17.11.2005]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Girolamo Frescobaldi | ||
1 | Toccata per l'Organo col contrabasso overo Pedale | |
2 | Fantasia prima sopra un soggetto | |
3 | Fantasia seconda sopra un soggetto solo | |
4 | Canzon prima | |
5 | Fantasia terza sopra un soggetto solo | |
6 | Fantasia quarta sopra due soggetti | |
7 | Canzon seconda | |
8 | Fantasia quinta sopra due soggetti | |
9 | Fantasia sesta sopra due soggetti | |
10 | Canzon terza | |
11 | Fantasia settima sopra tre soggetti | |
12 | Fantasia ottava sopra tre soggetti | |
13 | Canzon quarta | |
14 | Fantasia nona sopra tre soggetti | |
15 | Fantasia decima sopra quattro soggetti | |
16 | Canzon quinta | |
17 | Fantasia undecima sopra quattro soggetti | |
18 | Fantasia duodecima sopra quattro soggetti | |
19 | Pezzo in quarto |
Interpreten der Einspielung
- Liuwe Tamminga (Orgel)